Wann gab es zum ersten Mal eine wirklich respektvolle und wissenschaftliche Debatte zwischen Juden und Christen? Eine Auseinandersetzung auf Augenhöhe, in der weder antisemitische Beleidigungen noch übergriffige Missionierungswünsche im Vordergrund standen, sondern sachliche Argumente und lebendige Dispute, also ein intellektuelles Feuerwerk?
Laut dem israelischen Religionshistoriker George Yaakov Kohler, Professor für Religionsphilosophie an der Bar-Ilan-Universität in Ramat Gan, waren es vor allem die Auseinandersetzungen von jüdischen Gelehrten wie Abraham Geiger, Leopold Zunz und Samuel Holdheim mit christlichen Theologen im 19. Jahrhundert, die einen bis heute nachwirkenden Perspektivenwechsel einleiten sollten, und zwar auch mit weitreichenden Folgen für die moderne Wissenschaft des Judentums.
forschungsergebnisse Kohler präsentierte dieser Tage seine aktuellen Forschungsergebnisse während einer öffentlichen Vorlesung im Rahmen der Veranstaltungsreihe »Jüdische Theologie(n) und ihre Geschichte« des Abraham Berliner Center, das an der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg zu Hause ist und 2015 anlässlich des 100. Todestags seines Namensgebers gegründet wurde.
Kohler ist ein mitreißender Vortragender, der es versteht, in prägnanten Thesen und abgesichert durch gut recherchiertes Quellenmaterial für seine komplexe Materie zu werben. Der Wissenschaftler zeigt auf, wie selbstbewusst jüdische Gelehrte im Gefolge der Aufklärung ihre Positionen vertraten. Eine der zentralsten davon lautete: Es sei nicht das Christentum gewesen, sondern vielmehr das Judentum, das die europäische Kunst, Kultur und Philosophie maßgeblich vorangebracht habe.
Schon Abraham Geiger sprach den Christen jeglichen Anteil am kulturellen Fortschritt ab.
Schon Abraham Geiger sprach den Christen jeglichen Anteil am kulturellen Fortschritt ab. Er selbst bezeichnete sich als einen »freimütigen Ankläger des Christentums«. In den anschließenden Diskussionen zwischen dem Historiker Isaak Markus Jost und dem italienischen Abt Luigi Chiarini wurde sowohl die Rolle des Talmuds verhandelt als auch der Einfluss der häufig verleumderisch wirkenden christlichen Mythen, die sich um das religiöse Werk rankten.
KONVERTITEN Ebenso intensiv beschäftigt sich Kohler mit der Rolle von Konvertiten wie Friedrich Julius Stahl. Der preußische Jurist war als junger Mann zum Christentum übergetreten. Später sollte er ein äußerst konservativer Staatsrechtler werden, der mit Inbrunst den Einfluss der christlichen Kirche auf Staat und Gesellschaft auszuweiten versuchte. Auch er debattierte damals intensiv mit jüdischen Wissenschaftlern über die Rolle der beiden Sphären, aus denen er selbst kam.
Kohler machte hingegen deutlich, dass es hier nicht um emotionale Befindlichkeiten ging, sondern um eine an Quellen orientierte, forschungsgeleitete Auseinandersetzung, die vor allem für säkulare Juden ein ermutigendes Angebot zur Selbstorientierung darstellte. Führende Goethe-Forscher, so Kohler, waren im 19. Jahrhundert nun einmal häufig Juden. Und dafür gab es gute Gründe: Weil die deutsche Klassik sich an der Antike orientierte und das enge moralische Korsett des Christentums abgelehnt hatte. Was Kohler in diesem Kontext aber ausblendet, ist die Rolle des euphorischen Nationalismus, der insbesondere die Klassikforschung des 19. Jahrhunderts stark prägte.
In zahlreichen Diskussionen über Antisemitismus sieht Kohler einen bloßen »Abwehrmechanismus« am Werk, der intellektuell wenig befriedigend sei.
Jüdische Autoren wie Hermann Jellinek betonten, dass die berühmte Madonna von Raffael in der Sixtinischen Kapelle eben keine christliche sei, sondern eine des Künstlers Raffael – kurzum menschliche Kunst. Das Christliche habe somit weit weniger prägenden Charakter als gemeinhin angenommen.
DYNAMIK Andere jüdische Gelehrte kritisierten, dass die Übersetzung von Tora bei Paulus mit dem griechischen Wort für Gesetz, und zwar »nomos«, eine bewusste Verzerrung jüdischen Denkens darstelle. Nicht der starre Begriff »Gesetz«, sondern »Lehre« sei die bessere Übertragung. Der dynamische Charakter des Judentums sollte betont werden. Die Kraft, nicht stehen zu bleiben, sondern sich neuen Gegebenheiten stets anpassen zu können.
Kohler versteht die akademischen Perspektiven dieser Debatten aus dem 19. Jahrhundert als eine Form radikaler »counter history«, als eine mutige Gegengeschichte zu vielen damals vorherrschenden Klischees. Hier schlägt er einen faszinierenden Bogen zur Gegenwart.
In zahlreichen Diskussionen über Antisemitismus sieht Kohler einen bloßen »Abwehrmechanismus« am Werk, der intellektuell wenig befriedigend sei. Wissenschaftliche Auseinandersetzung bedarf eines Blickes von außen, braucht Besonnenheit und Genauigkeit. Dass das keineswegs langweilig sein muss, dafür sind Kohlers historische Forschungen ein überzeugendes Beispiel.