Tempelberg

Respekt vor dem Allerheiligsten

Kotel und Felsendom: Der Tempelberg in der Altstadt von Jerusalem ist Juden und Muslimen heilig. Foto: REUTERS

Der Tempelberg ist das Zentrum der Welt. Im Talmud steht geschrieben: »Zion ist die Mitte der Welt, und von dort hat die Schöpfung der Welt begonnen« (Joma 54b). Wie wichtig Jerusalem und der Tempelberg sind, wissen wir alle.

Von dort nimmt Haschem, G’tt, laut unserer Tradition Erde, um Adam zu erschaffen. Unser Urvater Awraham bindet dort Jizchak auf dem Altar und besteht damit seine schwerste Prüfung, wie treu er Haschem ist. Jakow sieht dort die Engel, die auf- und niedersteigen, und erlebt die g’ttliche Offenbarung. König David erwirbt den Berg, sein Sohn Schlomo baut und weiht dort den Ersten Tempel. In einem Psalm beschreibt David den Tempelberg mit folgenden Worten: »Denn Er hat Zion erwählt, und es gefällt Ihm, dort zu wohnen« (Tehilim 132,13).

Doch der Zweite Tempel in Jerusalem, von König Herodes erbaut, wurde nach dem jüdischen Aufstand gegen die römischen Besatzer im Jahr 70 n.d.Z. zerstört. Nach Israels Unabhängigkeitskrieg 1948/49 wurde Ost-Jerusalem von Jordanien annektiert. Danach konnten Juden nicht mehr an der Kotel, der ehemaligen Westummauerung des einstigen Tempels, beten.

SECHSTAGEKRIEG Im Sechstagekrieg 1967, nachdem Israel von mehreren arabischen Staaten angegriffen worden war, eröffnete sich Israel eine neue Realität. »Har HaBait beJadenu!« Der freudige Funkspruch von Mordechai »Motta« Gur, des israelischen Generals, vom 7. Juni 1967 ist berühmt geworden: »Der Tempelberg ist in unseren Händen!«

Rabbiner Yisrael Ariel, der Leiter des »Tempel-Instituts« in der Jerusalemer Altstadt, nahm als Fallschirmspringer an der Befreiung der Altstadt und des Tempelbergs teil. Er und weitere Soldaten warteten auf die Bulldozer, denn sie gingen davon aus, dass die im 7. Jahrhundert n.d.Z. errichteten und im Mittelalter auf dem Berg fertiggestellten islamischen Bauten, die Al-Aksa-Moschee und der Felsendom, auf dem Berg abgerissen würden.

Wir schränken unsere Religionsfreiheit ein, um anderen mehr Freiheit zu geben.

Doch dann erschien Mosche Dajan, Israels damaliger Verteidigungsminister. Er bat die israelischen Soldaten, die israelische Fahne herunterzunehmen. Zudem erklärte er, der Besuch aller heiligen Stätten Jerusalems sei sofort für Mitglieder aller Religionen möglich.

STATUS QUO Mitte Juni 1967 traf sich Dajan in der Al-Aksa-Moschee mit den religiösen Autoritäten der Jerusalemer Muslime und verkündete die Regelungen eines Status quo: Israel kontrolliert den Tempelberg; die Jerusalemer Waqf-Behörde, eine von Jordanien finanzierte islamische Stiftung, verwaltet das Areal und die heiligen Stätten. Später kümmerte sich Dajan darum, dass Juden zwar den Tempelberg besuchen konnten, aber beten durften sie dort nicht. Die beiden Oberrabbiner Israels unterstützten Dajan in seiner Haltung.

Bis heute dauert dieser Status quo an: Der Waqf bezahlt die Instandhaltung der islamischen Stätten und soll auf die Zurschaustellung von Nationalfahnen verzichten. Israel verzichtet dagegen auf den Anspruch, jüdisches Gebet auf dem Tempelberg zu ermöglichen, zeigt aber um das Gelände eine deutliche Präsenz seiner Sicherheitsorgane – und kontrolliert durch das Mughrabi-Tor den Zugang von Nichtmuslimen zu dem Gelände.

Schon damals begann eine heftige innerjüdische Diskussion und ein Streit in Israel, der bis heute andauert. Nach 2000 Jahren im Exil, so fragen manche, sind wir zurückgekehrt – und dürfen hier nicht beten? Was bedeuten dann noch die Worte von General Gur, dass wir den Tempelberg besitzen?

UNTERGRUND »HaMachteret-haJehudit«, der sogenannte jüdische Untergrund, hatte in den 80er-Jahren das Ziel, den Felsendom in die Luft zu jagen. Interessant ist dabei, dass nicht alle Mitglieder der illegalen Gruppierung mit dieser Terrorvision einverstanden waren, denn auch unter ihnen gab es Meinungsverschiedenheiten.

In all dieser Zeit vertrat Israels Oberrabbinat eine klare Position dazu – und es steht immer noch dazu. Das Oberrabbinat in Israel verbietet es Juden, den Tempelberg zu besuchen. Übrigens hat schon Rabbiner Avraham Yitzchak HaCohen Kook, der erste Oberrabbiner Israels, diese Meinung geteilt und dazu öffentlich Stellung bezogen.

Es ist nicht genau bekannt, wo der Tempel stand.

Rabbiner Schlomo Goren, Oberrabbiner der israelischen Armee und später auch Oberrabbiner Israels, vertrat allerdings eine abweichende Meinung. Warum verbietet also das Oberrabbinat, auf dem Tempelberg zu beten? Und warum gehen trotzdem viele religiöse Juden heute dennoch auf den Tempelberg?

Schauen wir in die Tora: Beim Bau des Stiftzelts in der Wüste wurde uns mitgeteilt, dass es drei Bereiche im Tempel gibt. Der innere Bereich darf nur von den Kohanim, den Priestern, betreten werden. Den Bereich rundherum dürfen nur die Leviten betreten, zu deren Aufgaben es auch gehört, Bewacher zu sein, damit die Israeliten nicht in die für sie unerlaubte Zone eindringen. So heißt es in der Tora: »Aber der Unzugehörige, der naht, muss sterben« (4. Buch Mose 18,7).

Wo lag der Tempel? Wüssten wir das genau, wäre es viel einfacher. Auch wenn uns klar ist, wo der Tempelberg liegt, wissen wir nicht Bescheid, wo auf dem Berg der Tempel selbst gestanden hat.

Rabbiner Goren hatte nach dem Krieg mithilfe der Ingenieurkorps den Tempelberg ausgemessen und kam zu der Schlussfolgerung, dass die Stellen, die von Israeliten beziehungsweise von unreinen Menschen (die durch die Berührung einer Leiche oder den Besuch eines Friedhofs unrein geworden sind) nicht betreten werden dürfen, sich im Bereich des Felsendoms und in seiner Nähe befinden. So ergibt sich nach dieser Recherche die Möglichkeit, auf den Tempelberg zu gehen – zumindest in die Nähe der Mauer und auf die südliche Seite des Bergs.

Dennoch bleibt Israels Oberrabbinat bei seinem Verbot. Denn selbst wenn wir genau wüssten, wo sich einst der Tempel auf dem Tempelberg befand – womit womöglich nicht alle einverstanden wären und dieser Ansicht zugestimmt hätten –, dürfen nur Menschen, die sich gereinigt haben, den Tempelberg besteigen.

MIKWE Das bedeutet, dass man vor dem Betreten des Tempelbergs in die Mikwe gehen und alle Halachot einhalten muss. Die meisten kennen diese Halachot nicht, aber man sollte den ganzen Körper vor dem Eintauchen in die Mikwe auf eine besonders gründliche Weise reinigen.

Dazu kommt noch die Frage, wie man sich auf dem Tempelberg verhalten soll. Denn dieser Ort ist kein touristisches Highlight, sondern ein heiliger Ort, der einen würdigen und ernsten Zugang erfordert. Es dürfen dort keine leichtfertigen Gespräche geführt oder Witze erzählt werden.

Und noch ein weiterer Punkt muss betont werden: Juden haben Muslimen nie verboten und werden es ihnen auch in Zukunft nicht verbieten, auf dem Tempelberg zu beten. Aus Sicherheitsgründen wird der Berg manchmal gesperrt, aber ein Verbot des Betens kommt nicht infrage.
Religionsfreiheit ist uns heute wichtiger denn je. Leider müssen wir manchmal unsere eigene Religionsfreiheit einschränken, um den anderen mehr Freiheit garantieren zu können.

Rabbiner Goren hatte sein Buch über den Tempelberg Har Habayit, das 1993, ein Jahr vor seinem Tod, erschienen ist, 26 Jahre lang nicht veröffentlicht. In der Einleitung betont er die Gefahr, dass, sofern Juden gar nicht auf den Berg kommen und auch nicht beten dürfen, die Herrschaft über den Berg in Zweifel gezogen werden könnte.

Wir wissen es zu schätzen, dass wir an der Kotel beten können.

HALACHA Dieser Gefahr will er begegnen, indem Rabbiner Goren halachische Rahmenbedingungen vorgibt, wie und wo Juden den Berg dennoch betreten und dort beten dürfen. Seine Argumente werden heute von denjenigen Juden vorgebracht, die sich dafür entschieden haben, den Tempelberg zu besuchen.

Aber für die Mehrheit der Juden gilt: Wir gehen nicht auf den Berg. So sehr es uns leidtut, dass wir der Heiligkeit nicht nahekommen können, wissen wir es auch zu schätzen, dass es uns möglich ist, an der Kotel zu beten. Wir können nicht Verbote übertreten, um eine Mizwa zu erfüllen. Daher halten wir uns fern und hoffen, dass uns eines Tages Haschem den Tempel zurückgeben wird, damit wir dort beten.

Eines steht jedenfalls fest: Wir folgen dem Erbe und dem Willen des Königs Schlomo, dass dieses Haus – das Haus des Gebets – für alle Völker offen sein soll. Und wir hoffen, dass die Völker auch in Zukunft diesen friedlichen Wunsch respektieren und akzeptieren werden.

Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Frankfurt und Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD).

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