Chanukka (…) war ein Freudenfest der Religionsfreiheit. Doch heute, im 21. Jahrhundert, ist die Religionsfreiheit immer noch gefährdet – nicht nur für Juden, sondern auch für Christen und Muslime». Jonathan Sacks, ehemaliger britischer Oberrabbiner, hat am Donnerstagabend, dem fünften Abend von Chanukka, in der Berliner Humboldt-Universität eindringlich vor religiöser Gewalt weltweit gewarnt.
Sacks war Redner beim Hildesheimer Vortrag, den die Berliner Studien zum Jüdischen Recht an der Humboldt-Universität und das Rabbinerseminar zu Berlin seit 2013 gemeinsam veranstalten.
Bereits am Mittag war er in der britischen Botschaft Gast des American Jewish Committee und des Rabbinerseminars zu Berlin, sprach dort über die Rolle des interreligiösen Dialoges. Thema seines abendlichen Vortrages: «Gewalt und Recht – historische und zeitgenössische Betrachtungen».
rechtssystem Dabei ging der orthodoxe Rabbiner verschiedenen Erklärungen für die Ursachen religiöser Gewalt nach. Die Frage sei, ob Religion, wenn sie Teil des Problems sei, auch Teil der Lösung sein könne. Sacks bezog sich dabei auch auf die Theorien des Anfang November verstorbenen Religionsphilosophen René Girard. Laut Girard habe die Erfahrung gezeigt, dass eine Gewaltspirale durch die Opferung eines Sündenbocks unterbrochen werden könne. «Eine andere Möglichkeit ist ein Rechtssystem», sagte Sacks.
Der orthodoxe Rabbiner unterstrich das unterschiedliche Gottesbild im Judentum und im Christentum. Der Gott des sogenannten Alten Testaments, der Gott des Gesetzes, sei nicht derselbe Gott wie der des Neuen Testaments, der Gott der Liebe. Doch Liebe allein könne das Problem der Gewalt nicht lösen, da Liebe auch Geschwisterrivalitäten und damit gewalttätige Konflikte erzeugen könne. Als biblische Beispiele für solche Rivalitäten nannte Sacks die Beziehungen zwischen Kain und Abel, Isaak und Ismael, Jakob und Esaw sowie zwischen Josef und seinen Brüdern. Recht ohne Liebe sei harsch, doch Liebe ohne Recht führe zu Gewalt. Das Recht müsse daher über die Liebe dominieren.
familienglaube «Die Religion Abrahams, die drei Formen annahm: Judentum, Christentum und Islam – dieser Familienglaube steht im 21. Jahrhundert vor seinem höchsten Test», betonte der Rabbiner. Diejenigen, die für sich selbst Religionsfreiheit beanspruchten, müssten sie auch Andersgläubigen zugestehen. Jonathan Sacks ist Gelehrter für jüdische Philosophie, international gefragter Redner und Autor zahlreicher Bücher. Sein neuestes Buch erschien im Juni 2015 unter dem Titel Not in God’s Name: Confronting religious violence.
Josef Schuster, der als erster Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland an einem Hildesheimer Vortrag teilnahm, begrüßte Sacks und würdigte die Veranstaltungsreihe: «Wir brauchen diesen intellektuellen Input, wir brauchen eine jüdische Debattenkultur ebenso sehr wie den Austausch mit der nichtjüdischen akademischen Welt», betonte Schuster.
schoa Esriel Hildesheimer, der 1873 das erste orthodoxe Rabbinerseminar in Berlin gegründet hatte, sei unter den führenden jüdischen Intellektuellen Deutschlands im späten 19. Jahrhundert gewesen – ähnlich wie Leo Baeck später. Die Lücke, die durch die Schoa entstanden sei, könne immer noch schmerzhaft gefühlt werden, sagte Schuster. Er sei daher sehr froh darüber, dass der Zentralrat gemeinsam mit der Lauder Foundation das 1938 durch die Nazis gewaltsam geschlossene Rabbinerseminar im Jahr 2009 neu gründen konnte.
In Erinnerung an Esriel Hildesheimer widmen sich seit 2013 in der Vortragsreihe an der Humboldt-Universität prominente Halacha-Gelehrte dem Beitrag, den das jüdische Religionsrecht in einer demokratischen Gesellschaft zum modernen Rechtsdiskurs leisten kann. Vor zwei Jahren hielt Pinchas Goldschmidt, Oberrabbiner von Moskau und Präsident der Europäischen Rabbinerkonferenz, den Vortrag; 2014 war es Nachum Rakover, ehemaliger stellvertretender Generalstaatsanwalt Israels und emeritierter Professor der Bar-Ilan-Universität.