Der hybride Charakter des Kollektivs namens Judentum ist wohl der Grund, warum die Frage »Wer ist Jude?« vor allem bei den sogenannten »Problemfällen« so intensiv diskutiert wird. Denn bei kaum einer anderen Gruppe dürften die religiöse und die ethnisch-nationale Dimension derart miteinander verschränkt sein wie bei Juden. Daher ist es spannend, den Verlauf dieser Diskurse über Generationen hinweg zu verfolgen, unter anderem auch deshalb, weil Fragen nach der Identität nie ihre Aktualität eingebüßt haben.
Im Sommersemester 2018 wird deshalb an der HfJS im Fach Talmud ein Seminar zu genau diesem Themenkomplex angeboten. Auf Basis rabbinischer Quellen sollen die entsprechenden Positionen einer näheren Analyse unterzogen und in den historischen Kontext eingebunden werden – schließlich standen Debatten über Identität sowie ihre unterschiedlichen Anwendungsformen bereits seit der Spätantike im Raum.
Problemfälle Zu den am häufigsten diskutierten Fällen dieser Art gehören der Status von Kindern aus einer Ehe von zwei Partnern mit unterschiedlicher Religionszugehörigkeit sowie das Problem einer rückwirkend geltenden rabbinischen Aberkennung des Jüdischseins eines Konvertiten, der nach seiner Konversion nicht mehr oder gar nicht als Jude lebt. Aber auch Kontroversen darüber, wie mit Personen umgegangen werden soll, die als Juden geboren, jedoch aufgrund einer nachlassenden religiösen Bindung von der jüdischen Gemeinschaft nicht mehr als solche anerkannt werden, gab es oft. Und es waren nicht nur Rabbiner, die sich darüber Gedanken machten. Auch im Staat Israel selbst befassten sich Politiker und Juristen mit solchen Fragen.
Hier sei an zwei besonders bekannte »Problemfälle« erinnert, mit denen sich das Oberste Gericht in Israel auseinandersetzen musste. Die juristische Debatte über die Frage »Wer ist Jude?« begann 1959 mit dem Petitionsantrag von Shmuel Oswald Rufeisen, einem 1922 in Polen geborenen Juden, der 1942 zum Christentum konvertiert und 1959 als Karmelitermönch nach Israel eingewandert war.
Trotz seiner Konversion zum Katholizismus, die während der deutschen Besatzung Polens stattgefunden hatte, weshalb er auch in einem Kloster als Zufluchtsort überleben konnte, verstand sich Rufeisen weiterhin als der jüdischen Nation zugehörig. Als Jugendlicher war er sogar in der zionistischen Jugendbewegung Akiva aktiv gewesen. Dem Karmeliterorden hatte er sich 1945 unter dem Namen Daniel Maria auch deswegen angeschlossen, weil dieser in Haifa ein Kloster als Mutterhaus besaß, wo er dann auf seinen Wunsch hin tatsächlich auch lebte und 1952 zum Priester geweiht wurde.
Zum Zeitpunkt seines Petitionsantrags galt das Rückkehrgesetz von 1950. »Jeder Jude ist berechtigt, in das Land einzuwandern«, heißt es darin. Was aber fehlte, war eine Definition dessen, wer überhaupt unter diese Kategorie fallen sollte. Dieses exklusiv Juden vorbehaltene Recht, das allenfalls aufgrund einer kriminellen Vergangenheit, der Beteiligung an Handlungen gegen das jüdische Volk oder der Gefährdung der öffentlichen Gesundheit verweigert werden konnte, impliziert, dass Juden unmittelbar nach ihrer Einreise in Israel einen entsprechenden Ausweis erhalten und uneingeschränktes Aufenthaltsrecht genießen. Daraufhin können sie auch ohne Einschränkungen die Staatsbürgerschaft erhalten.
Voraussetzung für die Annahme des Ausweises ist der Eintrag in das Bevölkerungsregister. Dafür waren damals zwei getrennte Angaben über die Zugehörigkeit zur Nation und zur Religion notwendig. Jüdische Staatsbürger Israels hätten im Regelfall also zweimal »Jude« eintragen lassen, einmal in dem Feld für die Angaben zur Nation, ein weiteres Mal in dem für Religion.
Für Rufeisen war die Anerkennung seiner jüdischen Identität aus einer nationalen Perspektive von großer Bedeutung. Er wollte auf jeden Fall seine Zugehörigkeit zur jüdischen Nation vom Staat Israel anerkennen lassen, indem er mit dem Verweis auf das Rückkehrgesetz um die Ausstellung einer Urkunde für Einwanderer bat und beantragte, in seinem Personalausweis in dem Feld zur Angabe der Nation »Jude« eintragen zu lassen.
Petition Genau das aber wurde abgelehnt, weshalb Rufeisen seine Petition vor dem Obersten Gericht einbrachte. Sein Argument: »Der Begriff Nation ist mit dem Begriff Religion nicht identisch. Ein Jude nach seiner Nationalität muss nicht ein Jude nach seiner Religion sein.« Die daraufhin einsetzende Diskussion drehte sich vor allem um die Frage, wie der Begriff Jude im Heimkehrgesetz auszulegen sei.
Sie wurde aus zwei Blickwinkeln betrachtet. Zunächst galt es zu unterstreichen, wie die Frage nicht beantwortet werden sollte. Gemäß der Halacha, so wurde argumentiert, bleibt ein Jude immer Jude. Die vorherrschende Meinung im jüdischen Recht besagte, dass Konvertiten grundsätzlich als Juden betrachtet werden. Genau an diesem Punkt wollte man ein Exempel statuieren. Der halachische Maßstab sei für die Festlegung des Begriffs Jude im Rückkehrgesetz in keiner Weise verbindlich, erklärten die Richter. Die rechtsstaatlich demokratische Verpflichtung zur Trennung von Staat und Religion verbiete eine automatische Übertragung der halachischen Kriterien auf den besagten Fall.
Zur Erörterung des Begriffs Jude orientierten sich die Richter zunächst am gesellschaftlichen Konsens, nämlich an der Art und Weise, wie der Begriff Jude für gewöhnlich im Alltag verwendet wird. Juden im Allgemeinen und Israelis, darunter auch die nichtjüdischen, nehmen den zu einer anderen Religion übergetretenen Juden als einen Menschen wahr, der, so argumentierte Richter Zvi Berinson, »nicht nur aus der jüdischen Religion, sondern auch aus der jüdischen Nation ausgetreten ist«.
Maßgeblich sei ferner eine Interpretation des Rückkehrgesetzes im Kontext seiner Entstehung sowie vor dem Selbstverständnis des Zionismus als politischer Bewegung. So hatte sich Theodor Herzl vehement gegen jede Vermischung von Religion und Staat ausgesprochen. Er wollte keinen jüdischen Staat, sondern einen Staat der Juden, wie er es im September 1897 in einem Brief an Max Bodenheimer formuliert hatte. Deshalb befürwortete Herzl auch die Ablehnung des Antrags des zum Christentum konvertierten Juristen und Journalisten Moritz de Jonge um Aufnahme in einen der zionistischen Vereine.
Die zionistische Argumentation verweist eindeutig auf den Aspekt der historischen Kontinuität. Die daraus abgeleitete Norm verlangt die Bindung an die Vergangenheit der Juden. Darin ist die mittelalterliche Judenverfolgung durch die Christen genauso in Erinnerung zu behalten wie die Tatsache, dass Nation und Religion im Begriff des Judentums immer vereint waren. Jeder Versuch einer Trennung dieser beiden Aspekte sei daher zu unterbinden.
Interpretation Richter Chaim Cohen, der für die Annahme des Petitionsantrags von Rufeisen gestimmt hatte, vertrat eine andere Meinung. Die Linie seiner Argumentation folgte weniger der Frage nach der Interpretation des Rückkehrgesetzes als vielmehr der der Interpretation der Regeln zur Eintragung in das Bevölkerungsregister. Dabei sei zu beachten, dass die Beamten in der entsprechenden Behörde in keinerlei Weise autorisiert sind, die Angaben, die ihnen vorgelegt werden, auf ihre Richtigkeit zu prüfen.
Die Eintragung in das Einwohnerregister habe lediglich eine statistische Funktion. Zudem würden aus der Nennung der Nations- und Religionszugehörigkeit keine Rechte erwachsen. All dies spreche für eine Orientierung am Willen des Einwohners. Dem Ganzen liege ein subjektiver Maßstab zugrunde, den Richter Cohen auch im Fall der gesetzlichen Regelung des Rückkehrgesetzes gelten lassen wollte.
Der Prozess wurde im Dezember 1962 entschieden. Mit vier zu eins lehnten die Richter den Petitionsantrag ab. Trotzdem erhielt Pater Daniel, wie Rufeisen sich nun nannte, im September 1963 die Einbürgerungsbestätigung – nur blieb das Feld »Nation« im Bevölkerungsregister sowie im Personalausweis leer.
Wirkung sollte die Deutung Richter Cohens über den Sinn der Eintragung in das Bevölkerungsregister und die daraus sich ergebenden Konsequenzen erst in der nächsten Runde der Debatte haben, nämlich bei der Verhandlung des Petitionsantrags von Benjamin Shalit.
Dieser war ein 1935 in Palästina geborener Jude, der hinsichtlich seiner jüdischen Identität ebenso wie Rufeisen die Zugehörigkeit zum jüdischen Kollektiv nur im nationalen Sinn verstand und auf solche Trennung Wert legte. Er heiratete 1958 während seines Studiums in Schottland Anne Geddes, Tochter eines Schotten und einer Französin sowie Nichtjüdin. Das Paar ließ sich in Haifa nieder und war voll in die israelische Kultur integriert. Als ihre Kinder Oren und Galia auf die Welt kamen, wollte Shalit, der sich ebenso wie seine Frau als konfessionslos verstand, beide als Angehörige der jüdischen Nation und konfessionslos ins Bevölkerungsregister eintragen lassen. Sein Anliegen wurde jedoch abgelehnt.
Daraufhin ging der Fall gleichfalls an das Oberste Gericht und wurde von neun Richtern verhandelt. Fünf davon gaben dem Berufungsantrag statt, vier stimmten dagegen. Der Fall, der von 1968 bis 1970 verhandelt wurde, stieß in der Öffentlichkeit auf großes Interesse. In dieser Zeit appellierten die Richter an die Regierung und forderten sie auf, zur Verhinderung solcher ideologisch aufgeladener Debatten ganz auf die Eintragung der nationalen Zugehörigkeit im Bevölkerungsregister zu verzichten. Die Regierung wies ihr Anliegen jedoch zurück.
Anerkennung Im Grunde schrieb die Meinung des Obersten Gerichts im Fall Shalit die im Rufeisen-Urteil bereits vorgetragenen Argumente von Richter Cohen fort. Es zeichnete sich bei der Mehrheit von ihnen die Tendenz ab, die Fragestellung zu entideologisieren. Im Sinne der subjektivistischen Auffassung von Cohen wurde das Ganze als eine verwaltungsrechtliche Angelegenheit beurteilt und der Regelungszweck solcher Eintragungen betont. Diese würden lediglich statistischen Zwecken dienen. Die Frage war also, erklärte Richter Joel Sussmann, nicht die allgemeine, wer Jude sei, sondern lediglich die, ob die entsprechende Behörde dazu verpflichtet sei oder nicht, Kinder als konfessionslose Angehörige der jüdischen Nation ins Bevölkerungsregister einzutragen.
Es gehe dabei nicht um die Anerkennung der Kinder als Juden. Die Eintragung in das Einwohnerregister selbst stelle keine Grundlage für eine Anerkennung als solche dar. Auch sei die Verpflichtung dazu nicht von der Richtigkeit der gemachten Angaben abhängig, und auch die Tatsache, dass sie eingetragen werden, würde nicht automatisch bedeuten, sie seien korrekt. Gerade solche Details wie Angaben über die Zugehörigkeit zu Nation und Religion gelten im Gesetz nicht als »Prima-Facie-Beweise«, auch Anscheinsbeweise genannt.
Nur in ganz extremen Fällen, wenn beispielsweise ein Erwachsener bei der Angabe seines Alters das eines Kindes nennt, sei der Beamte befugt und verpflichtet, die Erklärung nicht zu akzeptieren. Der subjektive Maßstab erwächst aus dem Geist des Gesetzes über die Eintragung im Bevölkerungsregister und setzt den Beamten deutliche Grenzen in ihrem Beurteilungsspielraum.
Charakter Der Vergleich der Fälle Rufeisen und Shalit zeigt: Beide Antragsteller beanspruchten die Eintragung »jüdisch« unter der Rubrik »Nation«. Aber was dem geborenen Juden Rufeisen nicht gewährt wurde, bekamen die nach halachischer Sicht nichtjüdischen Kinder von Shalit zugesprochen. Diese auf den ersten Blick paradoxe Vorgehensweise hat man mit dem Hinweis auf den gemeinsamen säkularen Charakter beider Gerichtsurteile zu erklären versucht.
Denn in beiden Fällen wurde ein dem halachischen Maßstab entgegengesetztes Urteil gefällt. Zudem ist Folgendes zu beachten: Im Fall Rufeisen orientierte sich die herrschende Meinung an einer objektivistischen Deutung des Begriffs »Jude«. Diese Hermeneutik hat sich im Fall Shalit gewandelt. Hier hat sich eindeutig die subjektivistische Orientierung durchgesetzt. Zudem kündigte sich darin die Tendenz an, die Frage der Eintragung abseits von ihrem ideologischen Gehalt im konkreten Kontext des fraglichen Regelungsbereichs zu behandeln. Anders als im Fall Rufeisen konnte man dabei auch von einem breiten Konsens in der israelischen Bevölkerung ausgehen.
Unmittelbar nach Bekanntgabe der Entscheidung zugunsten von Shalit erfolgte die parlamentarische Gegenreaktion. Auf Druck der religiösen Parteien wurde das Rückkehrgesetz novelliert und der entsprechende Paragraf, der eine verbindliche Definition darüber enthält, wer Jude ist, mit dem Gesetz über die Eintragung in das Bevölkerungsregister von 1965 verknüpft. Wer nun also als Jude nach Israel einwandern will und sich unter den Kategorien Religion und Nation auch als solcher registrieren lassen möchte, muss entweder eine jüdische Mutter haben oder zum Judentum konvertiert sein. Angehörigen einer anderer Religion ist dieser Schritt nicht möglich.
Diese gesetzgeberische, politische Antwort auf das liberale Urteil im Fall Shalit setzt eine verbindliche Interpretation des Begriffs »Jude« fest, die die Komponenten Nation und Religion untrennbar miteinander verknüpft. Bei der Novellierung wurde der halachische Maßstab aufgegriffen und die Einschränkung »... und nicht Angehöriger einer anderen Religion« hinzugefügt, die auf das Urteil im Fall Rufeisen zurückgeht. Sie beinhaltete zudem auch einen weiteren, liberalen sowie praktisch orientierten Paragrafen, wonach die Staatsbürgerschaft auch den nichtjüdischen Verwandten eines Juden zusteht – beispielsweise Ehepartnern, Kindern und Enkeln. Dieser Paragraf sichert im Sinne der Familienzusammenführung vor allem das Recht auf Einwanderung von Paaren mit unterschiedlicher Religionszugehörigkeit.
Konnotation Betrachtet man den ersten Teil der Novellierung, so zeigt die eindeutige parlamentarische Reaktion auf das Shalit-Urteil, wie schwer die Einheitsthese von der Untrennbarkeit von Nation und Religion im Begriff des Judentums wiegt. Gemäß der neuen Definition wird vor allem aufgrund der Einschränkung »und nicht Angehöriger einer anderen Religion«, die die Halacha nicht anerkennt, der religiöse Aspekt im Begriff des Judentums formal hervorgehoben. In seiner Mitteilung über die nationale Zugehörigkeit ist der jüdische Bürger insofern gezwungen, den religiös besetzten Sinn im Begriff Jude in Kauf zu nehmen.
Kein Wunder, dass die neue gesetzliche Regelung unmittelbar nach ihrer Inkraftsetzung einen Georg Rafael Tamrin veranlasste, eine Beschwerde vor dem Obersten Gericht einzureichen. Nun wurde im Kontext der Nationszugehörigkeit das israelische gegen das jüdische Bewusstsein ausgespielt. Tamrin nahm Anstoß daran, dass der Begriff »Jude« seiner Meinung nach nun eine zu starke national-religiöse Konnotation erhalten habe, und wollte den Eintrag »Jude« durch »Israeli« im Personalausweis ersetzt wissen. Sein Antrag wurde zwar abgelehnt, doch traf er damit durchaus den durch die zahlreichen Kulturkämpfe sensibilisierten Nerv vieler Israelis.
Eine weitere Wendung in diesem Diskurs war die richterliche Entscheidung aus dem Jahr 2011, als dem Gesuch des atheistischen Schriftstellers Yoram Kaniuk stattgegeben wurde. Er hatte darauf bestanden, dass seine im Personalausweis genannte religiöse Zugehörigkeit verschwinden soll.
Dieser Präzedenzfall verleiht der Konfessionsfreiheit israelischer Bürger, die ethnisch gesehen dem jüdischen Volk angehören, eine staatliche Anerkennung. Im globalen Kontext erblickt man in all dem die Sonderstellung der Gesellschaft im Staat Israel. Es ist vermutlich das einzige Land auf der Welt, wo Sensibilitäten für den eigenen Personenbegriff den politischen und gesellschaftlichen Diskurs um die Zukunft des Landes nicht nur widerspiegeln, sondern zugleich auch vorantreiben können.
Der Autor ist Inhaber des Lehrstuhls für Talmud, Codices und Rabbinische Literatur.