Das Kruzifix in der bayerischen Verwaltung, Angriffe auf Kippaträger in Deutschland, die Diskussion um die Integration muslimischer Einwanderer: Sie alle sind für Michel Friedman (62) nichts Geringeres als Ausdruck einer »Verschiebung tektonischer Platten« in unserer Gesellschaft.
»Wie viel Religion verträgt der Staat?« lautete der Titel einer Abendveranstaltung in Berlin, zu der das Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerk (ELES) im Rahmen des Programms »Dialogperspektiven« Friedman zu einem Gespräch mit ELES-Geschäftsführer Jo Frank eingeladen hatte. Doch der Abend wurde auch zu einer Debatte des Juristen, Publizisten und Philosophen Friedman mit dem Politiker Friedman.
Muslime Der Jurist beschrieb zunächst, was die Bundesrepublik Deutschland in der »liberal-demokratischen Welt« einzigartig mache: Anders als etwa in Frankreich, Großbritannien oder den USA sei die Trennung von Staat und Religion nicht konsequent vollzogen. Indem der Staat Religionssteuern eintreibe, betätige er sich als »ausführendes Organ« für Synagogen oder Kirchen. Dieser »hoch privilegierte Status« sei etwa Muslimen in Deutschland bislang verwehrt.
An die Analyse schloss sich die Forderung des langjährigen CDU-Politikers Friedman an: Die jüdische Gemeinschaft in Deutschland sollte ebenso wie die christlichen Kirchen auf ihre privilegierte Partnerschaft mit dem Staat in Form einer Körperschaft des öffentlichen Rechts verzichten.
Dass religiöse Identität wie die Zugehörigkeit zu einer Synagoge oder Kirche zu einem Verwaltungsakt werde, sei fatal, so der nach eigenem Bekunden nicht religiöse Friedman: »Aus religiöser Sicht ist es ein No-Go, die Verbrüderung fortzusetzen.« Einen Rückzug der Religionen aus der Sphäre des Politischen würde dies in seinen Augen aber nicht bedeuten, im Gegenteil. »Religion ist immer politisch«, konstatierte Friedman und hielt ein flammendes Plädoyer dafür, den »Resonanzraum der Demokratie« zu nutzen.
Weltbild »Etwas mehr als die Hälfte der Menschen im Land ist religiös«, so Friedman, und selbstverständlich müssten diese Menschen sich mit ihrem Weltbild in die Politik einbringen können, auch und gerade etwa in so kontrovers diskutierten Fragen wie dem Umgang mit Abtreibungen.
»Sehr viel« könnte also die Antwort auf die Ausgangsfrage danach sein, wie viel Religion der Staat verträgt. Die aktuell dennoch zu beobachtenden Verwerfungen, die »Verschiebung tektonischer Platten«, führt Friedman nicht auf ein Zuviel an Religion zurück, sondern im Gegenteil auf den von ihm als dramatisch empfundenen Bedeutungsverlust der Religion in Europa, allen voran des Christentums als unbestritten prägender Religion auf dem Kontinent. Der bayerische Kruzifix-Erlass ist in dieser Lesart ein »Symbol des Aufbäumens«, ein »hilfloser Versuch, Identität zu stiften«.
Politisch und juristisch, daran besteht für Friedman kaum Zweifel, ist der Vorstoß des bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder abzulehnen: »Ein Landratsamt ist öffentlicher Raum, es gehört allen.« Gleichzeitig wendet er sich dagegen, Söder als »Exorzisten« zu verlachen, und wirbt um Respekt vor dem Glauben: »Alle Gesellschaften glaubten an etwas.« Der Rahmen dafür seien der Rechtsstaat sowie der Gleichbehandlungsgrundsatz, nach dem jüdische, muslimische oder buddhistische Bürger sagen können: »Wenn die Christen das können, kann ich das auch.«
Dennoch seien Religionen »keine rechtsfreien Räume«. Damit gelte für das viel diskutierte Kopftuch ebenso wie für die Perücke: Werden sie freiwillig getragen, hat sich der Staat nicht einzumischen – übt jemand in dieser Sache Zwang aus, ist es ein Fall für die Justiz. Und schließlich, so Friedman, gelte: »Demokratiefeindliche Besprechungen sind nicht hinzunehmen« – der Staat muss nicht tolerieren, wenn in einem Gotteshaus für seine Abschaffung gepredigt wird.