Am 17. Juli 1810, vor genau 200 Jahren, wurde der Seesener Jacobstempel mit einem ungewöhnlichen Gottesdienst eröffnet, der heute als der überhaupt erste jüdische Reformgottesdienst gilt. »Das Fest war originell und einzig in seiner Art«, beschrieb ein zeitgenössischer Beobachter diese Feierstunde mit Chorgesang und Orgelbegleitung und Ansprachen auf Deutsch. Initiator war der Braunschweiger Unternehmer Israel Jacobson (1768 – 1828), der 1808 von König Jérôme als Präsident des Konsistoriums der Israeliten in Kassel eingesetzt worden war und so Gelegenheit hatte, im Königreich Westphalen seine Ideale von einer religiösen Reform und von der kulturellen Angleichung des Judentums an seine Umgebung umzusetzen.
Der Verlauf des Gottesdienstes ist genau dokumentiert. Der Historiker Isaak Markus Jost berichtete als Augenzeuge: »Die Einweihung, zu welcher eine Unzahl neugieriger oder eingeladener Staatsmänner, Gelehrter, Künstler, Geistlicher und Schul-
männer, Rabbiner und Lehrer herbeiströmte, machte einen unbeschreiblichen Eindruck, und namentlich auf die christlichen Gäste, von denen mehrere voller Begeisterung ihren Gefühlen in deutschen, lateinischen und hebräischen Gesängen Luft machten. Man knüpfte an diesen Vorgang große Erwartungen.«
Emanzipation Für Jacobson war dieser Tag der Höhepunkt seiner langjährigen Bemühungen um die Emanzipation der Juden. »Von allen meinen Braunschweiger Bekannten hat nur einer wirklich Geist, nämlich Jacobsohn«, befand der französische Schriftsteller Stendhal über den vermögenden Bankier, der die Aufhebung des Judenleibzolls in Braunschweig, Baden und Darmstadt durchgesetzt und den Frankfurter Fürstprimas Dalberg zur Rücknahme der diskriminierenden Judengesetzgebung gedrängt hatte. Goethe tat Jacobson hingegen als »Braunschweigischen Judenheiland« ab.
Die Gleichstellung der Religionen und »der gemeinschaftliche Fortschritt zum Besseren« waren erklärte Ziele Jacobsons. Er selbst hatte in Halberstadt eine traditionelle religiöse Erziehung erhalten, die vorgesehene rabbinische Laufbahn dann aber ausgeschlagen; stattdessen widmete er sich als Autodidakt aufgeklärten Studien und wurde zu einem begeisterten Verfechter der Ideen Moses Mendelssohns. In seiner Predigt am 17. Juli 1810 erklärte er mit aufklärerischem Tenor: »Denn die Erfahrung aller Zeiten hat es von den Bekennern jeder Religion bestätiget: dass die Bigotterie alles, Schale wie den Kern, für gleich heilig hält, die Scheinheiligkeit sich an die bloßen Formen bindet und die After-Aufklärung [die scheinbare Aufklärung] den Kern mit der Schale leichtsinnig wegwirft; dass hingegen nur die wahren echten Religiösen den Kern von der Schale zu sondern verstehen und außerwesentliche Einrichtungen und Gebräuche gerne modifizieren, sobald die geläuterte Vernunft selbige als unnütz und schädlich darstellt.«
Offenbarung Dem westphälischen Minister des Innern, Gustav Anton von Wolffradt, erläuterte Jacobson, dass er selbst auch die religiösen Gebräuche des Judentums als göttliche Offenbarung ansehe; nur seien manche dieser Gebräuche auf gewisse Zeiten und Länder beschränkt. Diejenige Religion sei die beste, welche an den wesentlichen Wahrheiten der Religion aufs festeste hängt, ohne sich sklavisch an alle Gebräuche zu binden, ohne diese aber deswegen gering zu schätzen oder zu verachten. Wie später auch Abraham Geiger war Jacobson an der Unterscheidung zwischen dem ewig Religiösen und dem vergänglich Nationalen gelegen; der Historiker Ismar Elbogen bezeichnete ihn später als den »Vater des Konfessionalismus innerhalb des Judentums«.
Neuerungen Jacobson setzte im repräsentativen Jacobstempel in Seesen und dann auch in Kassel die Neuerungen um, die er auch schon im Schulgottesdienst seiner 1801 gegründeten »Religions- und Industrieschule« in Seesen eingerichtet hatte. Er strich nur einige Pijutim, poetische Einschaltungen aus dem Mittelalter, aus der Liturgie, behielt aber die traditionellen hebräischen Gebete unverändert bei und ließ sie mit deutschsprachigen Gebeten abwechseln; die Gottesdienstlieder sang ein Knabenchor teils auf Deutsch, teils auf Hebräisch. Vor allem machte Jacobson, der in Seesen auch die Konfirmation für jüdische Jungen und Mädchen einführte, aber die Predigt zum wesentlichen Bestandteil des Schabbatgottesdienstes. Manche Formen waren dabei aus dem deutschen Kulturprotestantismus übernommen; die christliche Reformation war für Israel Jacobson ein Beispiel für eine geglückte Emanzipation. Er ließ aber keinen Zweifel daran, dass seine Orientierung am Protestantismus ihre Grenzen hatte, und versicherte orthodoxen Kritikern: »Fern sey es, dass ich mich selbst an der Religion wie an Euch zum Verräther [mache].«
Berlin Nach dem Ende des napoleonischen Modellstaates Westphalen ging Israel Jacobson 1814 nach Berlin, wo er im Palais Itzig liberale Gottesdienste hielt, an denen bis zu 400 Beter teilnahmen. Wegen des großen Andrangs musste man schließlich in das große Haus von Jacob Beer ausweichen, das Platz für 1.000 Gottesdienstbesucher bot. Leopold Zunz beschrieb 1815, wie wirkungsvoll diese Gottesdienste waren: »Gestern oder vielmehr Sonnabend war ich in Jacobsons Synagoge. Menschen, die 20 Jahre keine Gemeinschaft mit Juden hatten, verbrachten dort den ganzen Tag: Männer, die über die religiöse Rührung schon erhaben zu sein glaubten, vergossen Tränen der Andacht; der größte Teil der jungen Leute fastete.«
Von Berlin aus machten die liberalen Gottesdienste über Hamburg, Leipzig und Frankfurt am Main in ganz Deutschland und schließlich auch in Nordamerika Schule. Als Israel Jacobson im September 1828 in Berlin gestorben war, hielt Gotthold Salomon in Hamburg eine Predigt, die mit »Der wahrhaft Fromme stirbt nicht« überschrieben war. Dass seine Reformen bis heute fortwirken, zeigt diese Woche der Besuch von Delegationen der European Union for Progressive Judaism aus London und der amerikanischen Society for Classical Reform Judaism in Seesen und Berlin.