Der eine Tag» des Jahres steht nun vor uns. Jom Kippur ist für alle Beteiligten faszinierend. Das Konzept der Vergebung – dass Sünden vergeben, Worte zurückgenommen, Handlungen und Verpflichtungen aufgehoben werden können – ist ein sehr radikales Konzept. Denn schließlich erinnern wir uns in unserem realen, weltlichen Leben noch Jahrzehnte später an jede gegen uns geschleuderte Kränkung und Beleidigung. Wir sind in der Lage, trotz dieser Erfahrungen unser Leben weiterzuleben, aber wir erinnern uns an sie.
Doch Jom Kippur schafft eine Situation, die spirituell diese Erfahrung löscht. Der Tag ermöglicht eine weiße Weste, befreit von vergangenen Sünden und Verfehlungen. Dies macht Jom Kippur zum größten Geschenk, das der Himmel für uns zu unseren Lebzeiten bereithält. Dieses Konzept der Vergebung und des Neuanfangs ist wiederum eines der größten der vielen Geschenke, die das Judentum der Menschheit gemacht hat. Doch es gibt nur wenige Geschenke im Leben, die nicht auch Pflichten und Verantwortung mit sich bringen.
Schwerpunkt Die Vergebung zu Jom Kippur geht einher mit der Pflicht zur Selbstprüfung und der Entschlossenheit, es bessser zu machen und die Fehler der Vergangenheit nicht zu wiederholen. Bei der Auflistung der Sünden an Jom Kippur wird der Schwerpunkt auf die Worte gelegt, die wir von uns gaben, auf die Beine, die uns zu den Verstößen trugen, und auf die Hände, die in der Regel die Vollstrecker unserer Sünden sind.
Die Auflistung dieser, wenn man so will, Körperteile, geschieht nicht unabsichtlich oder bloß aus poetischen oder metaphorischen Gründen. Sie beschreiben für uns die Bereiche unseres Lebens, die ständiger Verbesserung und Sorge bedürfen. Als solche erfordern sie ein Mindestmaß an Bemühen und Verständnis.
Vom eigenen Reden hängen Leben und Tod ab. Es ist häufig schwierig, wirklich vorsichtig zu anderen oder, noch öfter, über andere zu sprechen. Wir glauben meist, dass bloßes Reden nichts bedeutet. Doch Worte können sehr schädlich sein. Die Rabbinen erklärten, dass es drei Opfer böser oder gar achtloser Rede gibt: den Sprecher selbst, den Zuhörer und die Person, die Gegenstand der Bemerkung oder Rede war.
Konsequenz Daher ist böses Gerede geradezu ein Serienkiller, ein Mehrfachmörder. Wir alle reden manchmal falsch, meistens unabsichtlich, aber dennoch nicht ohne Konsequenzen. Als jemand, der von Berufs wegen ständig spricht und lehrt, bin ich mir bewusst, wie leicht Aussagen gemacht werden können, die nicht ganz exakt und oft sogar überhaupt nicht klug sind. Ich bedaure diese fehlgeleiteten Worte sehr.
Das ist die Gefahr meines Berufs, aber es ist genauso eine Gefahr für uns alle. Bedächtiges Sprechen ist eine Verpflichtung, die an der Spitze unserer Liste der Verbesserungen stehen sollte, die wir an Jom Kippur geloben. Und in vielerlei Hinsicht ist es wohl die am schwierigsten zu erfüllende Verpflichtung. Seit unserer Kindheit sind wir es gewohnt zu sprechen, also tun wir es beinahe automatisch. Einmal sah ich ein Schild, auf dem stand: «Nicht den Mund in Gang setzen, solange das Gehirn noch nicht in Betrieb ist.» Wahrere Worte wurden noch nie geschrieben oder gesagt.
Unsere Beine bewegen sich schnell, wenn wir von unserem Ziel begeistert sind. König David sagte über sich selbst, dass seine Beine ihn fast automatisch in das Bet- und Studierhaus brachten. Unsere Beine tragen uns dorthin, wo wir wirklich hinwollen. Damit sind sie ein echter Maßstab für unsere Ziele und Ambitionen. Sie sagen uns, was in unserem Leben wichtig ist und was wir wirklich wertschätzen und wo wir unsere Prioritäten setzen. Unsere Beine, und wo sie uns hintragen, erlauben nicht, uns von frommen Plattitüden, die wir manchmal äußern, täuschen zu lassen.
Schwächen Es gibt Zeiten, zu denen wir an Orte gehen, die wir besser nicht besuchen sollten, und an Aktivitäten teilnehmen, die ungebührlich sind. Unsere Beine brachten uns dorthin und zeigten uns damit unsere wahren Absichten. Sie deckten unsere Schwächen auf, deren Existenz in uns wir lieber abstreiten würden. Wie vorsichtig doch und gemessen unsere Schritte im Leben sein müssen!
Jom Kippur lehrt uns auch, unsere Hände davon abzuhalten, Falsches zu tun. Hektisch und frustiert schlagen wir nach denen, bei denen wir das Gefühl haben, sie hätten uns verletzt oder beleidigt. Datan und Aviram, die Erzfeinde von Mosche und Archetypen des Bösen in der Tora, werden uns in der Tora als zwei einander gegenseitig schlagende Menschen vorgestellt. Leider leben wir in einem Klima der Gewalt, vom Schulhof über den Parkplatz bis hin zu häuslicher Gewalt.
Jom Kippur lehrt uns zu schweigen, zu sprechen dort, wo es notwendig ist, langsam in die richtige Richtung zu gehen und in fast allen Lebenslagen unsere Hände bei uns zu behalten.
Gmar chatima!
Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors. www.rabbiwein.com