Rabbi Akiva ben Joseph, der in der zweiten Hälfte des ersten und in der ersten Hälfte des zweiten Jahrhunderts im Land Israel lebte, war einer der bedeutendsten Tannaiten. Im Talmud wird er ungefähr 1500-mal erwähnt.
Nach seinem eigenen Zeugnis (Pessachim 49b) war er in einem früheren Lebensabschnitt ein Am Haaretz, ein ungebildeter Jude: »Als ich noch ein Am Haaretz war, sprach ich: ›Wer gibt mir einen Toragelehrten (Talmid Chacham)? Ich würde ihn wie ein Esel beißen.‹ Seine Schüler sprachen zu ihm: ›Meister, sag doch: wie ein Hund.‹ Und Rabbi Akiva erwiderte: ›Jener beißt und zerbricht auch den Knochen, dieser beißt und zerbricht den Knochen nicht.‹«
Vergangenheit Es drängt sich die Frage auf, warum Rabbi Akiva seinen Schülern von seiner unrühmlichen Vergangenheit erzählt hat. Möglicherweise wollte er sie auf eine bestimmte Wirklichkeit aufmerksam machen, die er aus eigener Erfahrung kannte. Ein Am Haaretz kann einen Talmid Chacham aus Neid oder aus einem anderen Grund hassen – diese Tatsache sollten seine Schüler vorsichtshalber beim Umgang mit einem Am Haaretz beachten.
»Hass soll nie in deinem Herzen gegen irgendeinen Menschen weilen.«
Eine zweite Interpretation der autobiografischen Mitteilung hebt eine ganz andere Lehre hervor: Vielleicht wollte der berühmte Tannait am eigenen Beispiel deutlich machen, dass ein Am Haaretz keineswegs ein Am Haaretz bleiben muss. Er kann sich weiterentwickeln, eine komplette Metamorphose in Gang bringen.
Jom Kippur Potenziell ist jeder Mensch ein Talmid Chacham. Daher, so erklärte Rabbi Löw, der Maharal von Prag (1520–1609), darf man den schockierenden Ausspruch von Rabbi Elazar, der da lautet: »Einen Am Haaretz darf man abstechen an einem Jom Kippur, der auf einen Schabbat fällt« (Pessachim 49b), sicher nicht als Erlaubnis zum Töten oder gar als Handlungsanweisung nehmen.
Rabbi Elazar wollte lediglich in einer äußerst drastischen Sprache vor dem Am Haaretz warnen. Selbstverständlich ist es strengstens verboten, einen potenziellen Talmid Chacham umzubringen, denn es heißt: »Du sollst nicht morden« (2. Buch Mose und 5. Buch Mose 5,17). Wem Rabbi Akiva zu verdanken hat, dass er sein Potenzial realisieren konnte, hat er selbst öffentlich kundgetan: seiner Ehefrau.
Im Talmud (Ketuwot 62b und 63a) steht folgende Geschichte: »Rabbi Akiva war Hirte des Ben Kalba Sawua. Als dessen Tochter sah, wie keusch und redlich Akiva war, sprach sie zu ihm: ›Willst du, wenn ich mich von dir antrauen lasse, ins Lehrhaus gehen?‹ Er erwiderte ihr: ›Ja!‹ Da ließ die Frau sich von ihm heimlich antrauen und verabschiedete ihn zum Ort des Toralernens. (…) Er kehrte nach 24 Jahren zurück und brachte 24.000 Schüler mit. Als seine Frau zu ihm kam, fiel sie aufs Gesicht und küsste ihm die Füße. Da stießen seine Diener sie fort. Er aber sagte ihnen: ›Lasst sie! Meines und eures ist ihres!‹«
Toralehrer Ein langjähriges Torastudium machte aus einem redlichen Am Haaretz einen der größten Toralehrer, die das Judentum hervorgebracht hat. Es war übrigens Rabbi Akiva, der lehrte: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst« (3. Buch Mose 19,18). Nach dem Talmud Jeruschalmi ist das »eine Grundlehre der Tora« (Nedarim 9,4). Raschi zitiert diese Sentenz in seinem Kommentar zum Vers und erwähnt, was er sonst nur selten macht, den Autor.
Wer sich bemüht, das Gebot der Nächstenliebe stets zu halten, wird wohl nie in die Lage kommen, Zeitgenossen zu hassen – eine Haltung, die die Tora ausdrücklich verbietet: »Du sollst nicht hassen deinen Bruder in deinem Herzen« (3. Buch Mose 19,17).
Wie Hass entsteht und durch welche Gedanken man ihn überwinden kann, erläutert Rabbiner Samson Raphael Hirsch (1818–1888) ausführlich in seinem Mizwot-Buch Chorew (Kap. 15).
Brüder Hier sei nur der Kern seiner Überlegungen zitiert: »Hass soll nie in deinem Herzen gegen irgendeinen Menschen weilen. Er ist ja dein Bruder, Kind desselben Gottes, mit gleichen Ansprüchen ans Leben von Ihm ins Leben gesetzt. Wenn du ihn hasst – ihn wegwünschest –, so hasst du, wünschst du auch Gottes Hand weg, die die Brüder neben dich gesetzt, auf dass du als Bruder sie achten sollst. Selbst im Beleidigen vergiss nicht, dass es dein Bruder ist, bedauere ihn, dass dein Bruder sich so verirren konnte. (…) Sündige nicht durch Hass!«