Wer war Menachem Meiri? Bis vor ein paar Generationen wären viele gelehrte Rabbiner bei dieser Frage vollkommen aufgeschmissen gewesen. Rabbi Meiri war zwar ein einflussreicher Kommentator und Entscheidungsträger im Katalonien des 13. Jahrhunderts, aber es scheint, dass seine Schriften viele Jahrhunderte lang sozusagen aus der Mode kamen und später auch aus den Druckereien verschwanden, bevor sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts wieder auftauchten.
Wegen seiner innovativen Urteile hat Meiri in jüngster Zeit viel Aufmerksamkeit von progressiven Gelehrten und jüdischen Aktivisten erhalten, die begeistert sind, eine mittelalterliche rabbinische Quelle zu finden, die ihre modernen, universalistischen Werte stützt.
In der Tat ist Rabbiner Meiri dafür bekannt, dass er versuchte, zwischen den Ovdei Kochavim (wörtlich: »Sternenanbeter«), die im Talmud als Götzendiener beschrieben werden, und seinen zeitgenössischen nichtjüdischen Nachbarn zu unterscheiden. Meiri vertrat die Auffassung, dass eine große Anzahl von Einschränkungen und Verboten, die die frühen Rabbiner im Umgang mit Götzendienern erlassen hatten, nicht für Christen gelten.
Um Rabbiner Meiri zu verstehen, muss man den intellektuellen Kontext seiner Zeit und seines Wirkungsortes begreifen. Das provenzalische Judentum in Südfrankreich und Nordkatalonien befand sich im Mittelalter an einem kulturellen Scheideweg: Es war sowohl im Kontakt mit Sefarad und seinem ständigen Dialog mit der von islamischen Gelehrten eingebrachten Philosophie als auch mit Aschkenas und seiner unermüdlichen und hochmethodischen Produktion von Talmudkommentaren.
In Perpignan inspirierten Rabbi Menachem Meiri aschkenasische und auch sefardische Quellen.
In der Tat liest sich das berühmteste Werk des Meiri, Beit HaBechira (»Das auserwählte Haus«), wie ein klassischer aschkenasischer Kommentar zum Talmud, aber es ist gleichzeitig durchdrungen vom inneren Gespräch des Autors mit dem Gelehrten, den er am meisten bewunderte: dem Rambam, Maimonides (1138–1204), der einst als geistiges Oberhaupt der Sefarden galt und in Andalusien und Ägypten wirkte.
In der Mischna wird der Kontakt zu Nichtjuden rigide eingeschränkt
Der Ansatz des Meiri wird in seinem Kommentar zu einer Mischna im zweiten Kapitel des Traktats Avoda Zara deutlich, die sich auf den streng beschränkten Kontakt zu Nichtjuden bezieht. Der kurze Abschnitt in der Mischna lautet, frei übersetzt:
»Man darf seine Tiere nicht in der Obhut von Nichtjuden lassen, weil sie der Bestialität verdächtigt werden. Eine Frau darf nicht mit ihnen (also den Nichtjuden) allein bleiben, weil sie des unerlaubten Geschlechtsverkehrs verdächtigt werden; auch ein Mann darf nicht mit ihnen allein bleiben, weil sie des Blutvergießens verdächtigt werden. Eine Jüdin darf einer nichtjüdischen Frau nicht beim Gebären helfen, aber eine nichtjüdische Frau darf einer Jüdin beim Gebären helfen.
Eine Jüdin darf das Kind einer nichtjüdischen Frau nicht stillen, aber eine nichtjüdische Frau darf das Kind einer Jüdin stillen. Man darf sich an sie mit einer medizinischen Frage wenden, wenn man nicht in Lebensgefahr ist, aber bloß nicht, wenn man in Lebensgefahr ist. Nach der Meinung von Rabbi Meir darf man sich niemals an sie wenden, um sich die Haare schneiden zu lassen; die Weisen jedoch erlauben, dass man sich an sie (für einen Haarschnitt) in der Öffentlichkeit wenden darf, aber nicht im Privaten.«
Rabbiner Meiri kommentiert diese – vermutlich bereits für damalige Verhältnisse nur schwer verdauliche – Quelle auf folgende Weise:
»Ich habe viele Menschen gesehen, die sich darüber wundern, dass heutzutage niemand mehr darauf achtet, diese Gesetze zu befolgen. Aber ich habe bereits erklärt, welche nichtjüdischen Nationen in diesem Traktat gemeint sind, und die Namen ihrer Feiertage werden dies auch bezeugen: Denn, wie ich oben erwähnte, handelt es sich bei ihnen allen um Feste alter Völker, die sich nicht durch die Regeln tatsächlicher Religionen limitieren lassen, sondern eifrig und ausdauernd die Anbetung von Götzen, Sternen und Talismanen praktizieren, die – und alles, was ihnen ähnlich ist – wesentliche Bestandteile des Götzendienstes sind. (…)
Was jedoch das Risiko der Übertretung der Verbote bezüglich des Schabbats und der Verbote bezüglich des Essens und Trinkens (von Nichtjuden) angeht – zum Beispiel (das Verbot) des Trankopferweins und ihres Weins an sich und alle diese Arten von Verboten, ob es nur darum geht, etwas (von ihnen) in der Nahrung zu verzehren, das verboten wurde, oder irgendeinen Vorteil daraus zu ziehen, oder ob die Verbote gemacht wurden, um Mischehen zu verhindern – alle (nichtjüdischen) Nationen fallen unter diese Verbote. Von nun an sollen sich diese Dinge in deinem Geist festsetzen, sodass es nicht nötig ist, sie bei jeder Gelegenheit im Einzelnen zu klären, sondern du sollst in der Lage sein, selbst zu analysieren, ob in dem einzelnen Fall die alten Völker gemeint sind oder die Nichtjuden im Allgemeinen; prüfe die Dinge, und du wirst sie erkennen.«
Rabbi Meiri interpretiert die Mischna anders
Ein paar Stellen hier sind hochinteressant. Zunächst die Tatsache, dass Rabbi Meiri aus der Perspektive vollendeter Tatsachen zu sprechen scheint. Bereits zu seiner Zeit scheinen bestimmte Beschränkungen im Kontakt mit Nichtjuden nicht mehr beachtet zu werden. Die Poskim (jüdische Rechtsgelehrte und Entscheidungsträger) können in einer solchen Situation entscheiden, ihre Gemeinschaft zur Ordnung zu rufen und sie an die »richtige Praxis« zu erinnern. Oder, wie es Meiri in diesem Fall tut, auf eine Weise regieren, die die aktuelle Praxis in den Geltungsbereich der Halacha einbezieht.
Der Rabbiner überließ dem mündigen Leser selbst die Entscheidung.
Allein der Gedanke, dass sich die Entwicklung der historischen Umstände auf die Halacha auswirken könnte, erscheint für diejenigen, die mit den heutigen Lehren der Orthodoxie vertraut sind, radikal. Doch muss dies für frühere Generationen von Weisen keineswegs revolutionär gewesen sein, wie diese und viele andere Quellen zeigen.
Auffallend ist auch die Formulierung, mit der Rabbiner Meiri seine Unterscheidung zwischen den Götzendienern des Altertums und den heutigen Nichtjuden begründet. Seine Sprache erinnert an die eines Anthropologen, der die Namen von Riten vergleicht und nach den längst vergangenen Völkern sucht, die sie praktiziert haben. Anstatt zu versuchen, die Realität, deren Zeuge er ist, in die Worte der Mischna einzupassen, weigert er sich, Nichtjuden zu pauschalisieren und auf die Figur des »Sternanbeters« zu beschränken.
Herausragend ist schließlich die Offenheit seines Urteils: »Aber ihr solltet in der Lage sein, selbst zu analysieren, ob in einem bestimmten Fall die alten Völker gemeint sind oder die Nichtjuden im Allgemeinen; untersucht die Dinge, und ihr werdet sie erkennen.« Dies könnte auf ein gewisses Unbehagen von Rav Meiri hinsichtlich der praktischen Auswirkungen einer vollständigen Neudefinition des Status des Nichtjuden hinweisen. Indem er den Anwendungsbereich dem Einzelnen überlässt, kann sich die Praxis organisch entwickeln, ohne dass der Rabbiner selbst die ganze Verantwortung für die Veränderung tragen muss.
Die Position des Meiri soll hier auf keinen Fall überzeichnet werden: Er hatte weder die Absicht, den Unterschied zwischen Juden und Nichtjuden aufzuheben, noch wollte er die Assimilation fördern.
Gerade deshalb unterschied er ja zwischen den Einschränkungen, die geschaffen wurden, um Juden von götzendienerischen Praktiken fernzuhalten, und denjenigen, die erlassen wurden, um die jüdische Distinktion zu bewahren. Da die Gründe, die die erste Kategorie motivierten, zumindest dort, wo er lebte, nicht mehr existierten, waren diese Beschränkungen nicht mehr notwendig – aber die Gründe für die Beschränkungen der zweiten Kategorie blieben relevant: Das Verbot, ihren Wein zu trinken oder von ihren Speisen zu essen, sollte beispielsweise weiter verhindern, dass sich zwischen ihnen zu enge Beziehungen entwickelten und schließlich Juden Nichtjuden heirateten.
Christen waren für Meiri keine Götzendiener
Abgesehen davon hat der Meiri hier lediglich einen Gedanken weitergeführt, der ihm vorausging. Rabenu Gershom zum Beispiel hatte bereits ein Jahrhundert zuvor entschieden, dass das Verbot des Handels mit Götzendienern nicht für Christen gilt.
Die Neuartigkeit des Ansatzes des Meiri liegt vielmehr darin, dass er das Christentum aus der Definition des Götzendienstes ausschließt. Zuvor begründeten die Rabbiner beispielsweise die Erlaubnis, den Schabbat zu brechen, um Nichtjuden das Leben zu retten, damit, dass »eine andere Entscheidung den Hass schüren würde«. Rabbiner Meiri aber argumentierte, dass Nichtjuden »Menschen sind, die durch die Wege der Religion limitiert sind«, das heißt, durch einen transzendenten ethischen Kodex gebunden sind.
Christen wie Juden sind von Gottesfurcht und entsprechenden Regeln geprägt.
Der israelische Philosoph Mosche Halbertal argumentiert, dass der Meiri die alten Völker mit Materialismus und Fetischismus identifiziert, um so sicher festzustellen, dass das Christentum eben keine solche götzendienerische Religion ist, da es wie das Judentum einen transzendenten, nichtmateriellen Ursprung der Welt anerkennt. Laut Meiri fehlt den im Talmud erwähnten götzendienerischen Völkern jegliches Konzept von Gott und somit auch jegliche Furcht vor ebenjenem, welche erst die Grundlage für die »Limitierungen in der Religion« bildet.
Was veranlasste den Meiri zu seinem milden Urteil? Befürchtete er, dass seine Gemeinde bereits in einer Weise handelte, die im Widerspruch zur anerkannten Halacha stand, und verspürte er das Bedürfnis, die Regel mit der Praxis in Einklang zu bringen? Haben ihn Gespräche mit christlichen Theologen dazu gebracht, zu überdenken, wie ihre Religion qualifiziert werden sollte? Hatten positive persönliche Begegnungen mit Christen einen Einfluss auf ihn?
Oder beziehen sich diese Urteile auf den Kontext der allgemeinen Eintracht zwischen Juden und verschiedenen christlichen Gruppen in Katalonien und der Provence während seiner Zeit? In jedem Fall liefert uns die einzigartige Verwendung seines Konzepts von Völkern, die »durch die Religion limitiert sind«, ein lehrreiches Beispiel dafür, wie ethisches Denken zu einer veränderten Interpretation früherer halachischer Quellen führen kann.
Sophie Bigot Goldblum ist Talmudlehrerin bei dem europaweiten jüdischen Lernprogramm Ze Kollel. Sie hat an der Hebräischen Universität Jerusalem, der Yeshivat Hadar sowie den Instituten Paideia und Pardes studiert.