Ernste Gesichter, beklemmende Atmosphäre und Rituale, die dem Menschen die Luft zum Atmen nehmen – das sind Assoziationen, die schnell herangezogen werden, wenn es darum geht, religiöse Gruppen und deren praktizierte Bräuche zu beschreiben. Heute gilt Religion vielen Kritikern als freudlos, bieder und einer längst vergangenen Zeit verhaftet. Vor allem das Judentum mit seinen unzählbaren Zeremonien lädt unwissende und ignorante Zeitgenossen geradezu ein, dieses festgefahrene Bild sorgsam zu hegen. Dabei sieht die Wirklichkeit ganz anders aus. Wir Juden sind – entschuldigen Sie den Ausdruck – echte Feierbiester!
Zugegeben: Mit dem Begriffsverständnis des heutigen Partybesuchers hat die talmudische Definition eines Feiertags wenig zu tun. Denn nur die Hälfte des Feiertags ist dem Menschen vorbehalten und die andere Hälfte Gʼtt. Der Genuss von Essen und Trinken ist also mindestens so wichtig wie das Studium oder der Gʼttesdienst. Gleichwohl fällt es uns unter Berücksichtigung dieser talmudischen Prämisse nicht schwer, die Kernaussage zu untermauern.
Das geflügelte Wort »Nach dem Fest ist vor dem Fest« hat Einzug gehalten.
Schon ein kurzer Blick in den jüdischen Kalender, der einen bunten Strauß von Feier- und Festtagen bereithält, reicht aus, um zu erkennen, dass es Phasen im jüdischen Jahr gibt, in denen wir aus dem Feiern gar nicht mehr herauskommen. Man denke nur an den Monat Tischri, in dem wir uns gerade jetzt befinden, mit den Feiertagen Rosch Haschana, Jom Kippur, Sukkot, Hoschana Rabba, Schemini Azeret und Simchat Tora. Zwar sind nicht alles freudige Ereignisse, sondern es mischen sich im Laufe eines Jahres auch eine Reihe ernsthafte Festtage oder Zeiträume dazwischen, die an historische Tiefschläge und die schwärzeren, traurigen Kapitel der wechselhaften jüdischen Geschichte erinnern.
Trotzdem sind die freudigen Anlässe deutlich in der Überzahl, weshalb mit einem Blick auf unseren eng getakteten Festtagskalender bereits das geflügelte Wort »Nach dem Fest ist vor dem Fest« Einzug gehalten hat, welches die Hüterinnen jüdischer Häuser je nach dem zu erwartenden Vorbereitungsaufwand für den kommenden Feiertag mal mit mehr, mal mit weniger Enthusiasmus zum Besten geben. Außerdem bestätigt sich damit die Qualifikation der Kinder Israels als wahre Feierbiester.
Just in dieser Woche jedenfalls stecken wir Juden bis zum Hals im Feiertagstrubel und begehen Sukkot, das Laubhüttenfest. Nur wenige Tage, nachdem wir unsere Hohen Feiertage und damit eine eher besinnliche, ernste und auf die Überprüfung eigener Handlungen gerichtete Atmosphäre hinter uns gelassen haben, beginnen jüdische Gemeinden auf der ganzen Welt damit, sich für das nur fünf Tage später beginnende Laubhüttenfest vorzubereiten.
Und wie der Name schon sagt, steht diesmal eine Hütte im Mittelpunkt des Geschehens
Viele meinen, Religion sei ernst und bieder. Sukkot beweist das Gegenteil.
Diese Hütte, von der es im 3. Buch Mose heißt, dass wir sieben Tage darin wohnen sollen, ist eine provisorische Behausung, die aus mindestens drei Wänden bestehen muss und deren Dach mit Zweigen, Blättern, Stroh oder ähnlichen natürlichen Materialien bedeckt wird.
Dabei muss allerdings darauf geachtet werden, dass das sogenannte Dach der Hütte diese nicht vollständig abdeckt, sondern lediglich mehr Schatten spendet als Sonne durchlässt. Jedenfalls sollen bei einem Blick nach oben der Himmel – oder des Nachts die Sterne – zu sehen sein.
Eine Erklärung für diese Bräuche ergibt sich aus dem historischen Kontext, dem dieses Fest entsprungen ist, nämlich der 40-jährigen Wüstenwanderung der Israeliten vor gut 3300 Jahren.
In Erinnerung an die Ära der Wanderung, in der keine festen Behausungen errichtet wurden, sondern nur provisorische Hütten, lassen wir diesen Teil der Geschichte unseres Volkes symbolisch Jahr für Jahr wieder Wirklichkeit werden, indem wir uns eine Woche lang in ebensolche Hütten begeben.
Eine andere Bedeutung erschließt sich bei einem Blick auf das durchlässige, unzureichende Dach der Laubhütte. Dieses soll uns einerseits in steter Regelmäßigkeit in Erinnerung rufen, wie fragil unsere Existenz doch eigentlich ist. Wie flüchtig materielle Werte und persönliche Sicherheiten seit jeher waren und auch heute je nach Wohnort und politischer Gemengelage noch sind.
Wir sprechen umgeben von grünen Blättern und dem wohligen Duft verschiedener Früchte den Segen auf Wein und Brot.
Gleichzeitig wird uns bei ebendiesem Blick durch das lichte Dach gen Himmel aber auch bewusst, wer schlussendlich für unseren Schutz und unser Überleben sorgt. Seit der Befreiung des Volkes Israel aus der ägyptischen Sklaverei und der anschließenden 40-jährigen Wüstenwanderung bis zum heutigen Tag war es letztlich das Vertrauen in Gʼtt, welches das jüdische Volk mit der Stärke zum Überleben ausstattete.
Nicht dass es von Unbill, Vertreibung und Katastrophen aller Art verschont geblieben wäre. Ganz im Gegenteil! Aber entgegen aller Wahrscheinlichkeit und im Widerspruch zu sämtlichen Erfahrungen, die man mit Blick auf andere Völker im Lauf der Geschichte hat sammeln können, war eine Entwicklung vollkommen abwegig, ja geradezu undenkbar: dass ein so kleines Volk wie das der Juden, das den größten Teil der Zeit, die es auf Erden weilte, ohne eigenes Land, ohne Souveränität und ohne Regierung hat auskommen müssen, dass ein so kleines Volk auch heute noch auf Erden wandeln würde. Ein Volk, das über den ganzen Erdball zerstreut wurde. Ein Volk, dessen Angehörige, wo immer sie auch hinkamen und wo immer sie auch lebten, über kurz oder lang unterdrückt, vertrieben und ermordet worden sind.
Viele meinen, Religion sei ernst und bieder. Sukkot beweist das Gegenteil
Wenn etwas bar jeder Wahrscheinlichkeit war, dann der Umstand, dass ein so kleines Volk durch die Jahrtausende hindurch überlebte. Dass es die eigene Identität durch die Stürme der Geschichte hindurch verteidigte und nicht – wie man es hätte erwarten können, ja sogar hätte erwarten müssen – zu einer Fußnote in den Geschichtsbüchern wurde. Das stattdessen selbst die größten denkbaren Katastrophen überstand. Gezeichnet zwar, aber nichtsdestotrotz immer noch aufrecht gehend.
Es ist das Vertrauen in den einen und einzigen Gʼtt, das die Juden in aller Welt auszeichnet und dessen sie sich in dem Moment bewusst werden, da sie ihre Blicke aus der unsicheren Behausung heraus und durch das unzureichende Dach hindurch gen Himmel richten.
Dass der Laubhütte also etwas Flüchtiges, Provisorisches anhaften soll, hindert uns nicht daran, diese prachtvoll zu schmücken und damit das freudige Element dieses Feiertags hervorzuheben. Wandteppiche, Bilder und Früchte aller Art verwandeln das Innere der vorübergehenden Behausung damit in eine warme, festliche Umgebung, die schließlich für sieben Tage zu Wohnzwecken dienen soll.
Doch der Wahrheit die Ehre: Zumindest hierzulande gelingt es nur den absolut Hartgesottenen, die historischen Erfahrungen des Volkes Israel Jahr für Jahr dadurch wieder lebendig werden zu lassen, dass man – um das Gesetz wörtlich zu nehmen – sieben Tage in der Laubhütte wohnt.
Die große Mehrheit der Juden, die außerhalb Israels oder zumindest in solchen Ländern mit einem zu dieser Jahreszeit unwirtlicheren und deutlich kühleren Klima leben, zollt dem Umstand Tribut, dass dieses Gesetz einst in deutlich wärmeren Gefilden gegeben wurde, und beschränken sich in aller Regel darauf, die Mahlzeiten in der Sukka einzunehmen.
Die Hütte ist provisorisch. Das hindert uns nicht daran, sie prächtig zu schmücken
Das tut der Festlichkeit und Freude allerdings keinen Abbruch. Ganz im Gegenteil. Es herrscht eine ganz besondere Atmosphäre, wenn die Gemeinde eng gedrängt in der bunt geschmückten Laubhütte zusammenkommt, sei es nun während des Tages, wenn bei gutem Wetter ein paar Sonnenstrahlen durch das lichte Dach brechen, oder sei es während des Abends, wenn der Vollmond und das Funkeln der Sterne einen Hauch der unendlichen Weite des Universums erahnen lassen. In diesen Momenten heiligen wir den Ewigen und sein einmaliges Schöpfungswerk.
Wir sprechen umgeben von grünen Blättern und dem wohligen Duft verschiedener Früchte den Segen auf Wein und Brot und danken dem Schöpfer für die Wunder der Natur und die zahlreichen Gaben, die uns zuteilwerden. Und dann tun wir das, was wir am besten können. Wir essen, wir singen – zwar nicht unbedingt in perfekter Harmonie, dafür aber umso inbrünstiger – und wir feiern!
Der Autor ist Vorsitzender des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Hessen.