Corona verliert durch die fortschreitenden Impfungen zunehmend sein Bedrohungspotenzial – oder doch nicht? Fest steht, dass die Pandemie nach wie vor viele Fragen aufwirft: Wie verlässlich ist der Impfschutz, was ist mit einer vierten Welle und den neuen Varianten?
Fragen bleiben für alle, die sich mit mehreren Menschen treffen, in Innenräumen zusammenkommen oder gar größere Events veranstalten wollen. Aus der Konzert- und Veranstaltungsbranche hören wir, dass nur Geimpfte als Besucher zugelassen werden sollen, jedenfalls ab September. Wer sich weigere, geimpft zu werden, könne nicht erwarten, dass der Rest der Bevölkerung darunter leide.
hohe feiertage Ab September? Da stehen auch unsere Hohen Feiertage an. Muss zu Rosch Haschana oder Jom Kippur gelten: G’ttesdienste nur für Geimpfte? Müssen die Gemeindevorstände erneut improvisieren, konzipieren, gar kontrollieren? Vorbildlich haben die Gemeinden schon lange angepasste Konzepte entwickelt und ausgerollt.
Vorbildlich haben die Gemeinden schon lange angepasste Konzepte entwickelt und ausgerollt.
Aber was ist eigentlich die Ausgangslage? Immerhin sind wir im Kernbereich religiöser Betätigung unterwegs, wenn es gilt, auch unter diesen Bedingungen die jahrtausendealte Reihe der G’ttesdienste nicht abreißen zu lassen. Und das garantiert uns das Grundgesetz auch. Artikel 4 gewährleistet grundsätzlich einschränkungslos die Glaubensfreiheit einschließlich – was hier besonders interessiert – deren organisierte Ausübung.
Unsere G’ttesdienste haben also Verfassungsrang – nicht ohne Weiteres einzuschränken durch eine Landesverordnung hier oder eine kommunale Maßgabe dort. Bei einem sogenannten schrankenlos gewährten Grundrecht wie hier – kurzer Jura-Exkurs – können nur andere Grundrechte überhaupt eine Einschränkung bilden.
risiken Nun ist auch das nicht so einfach – begeben sich die G’ttesdienstbesucher doch ganz freiwillig in die Synagoge, ob geimpft oder ungeimpft. Ja, da kann man streiten, ob der Staat zur Vernunft zwingen kann. Ich würde aber meinen, dass es im Kern auch der Menschenwürde, welche Artikel 1 des Grundgesetzes schützt, zugehört, selbst zu entscheiden, ob man bestimmte Risiken eingeht. Dürften Polizei oder Gesundheitsamt einen Kabbalat Schabbat stören, weil Ungeimpfte oder Ungetestete anwesend sind? Nein, auf keinen Fall.
Bezeichnenderweise sind die eingangs geschilderten Konzepte der Konzertbranche ja auch zunächst freiwillige, geboren aus der Überlegung, dass man aus Eigeninteresse nachweislich Ansteckungen verhindern will, um nicht wieder den Gesetzgeber mit Verboten auf den Plan zu rufen. Etwas, das unsere Synagogen-»Veranstaltungen« weniger betrifft, ist doch die verfassungsmäßige Wertigkeit derselben höher. Höher auch als bei Sportveranstaltungen oder Volksfesten.
Man kann streiten, ob der Staat zur Vernunft zwingen kann.
Da hat sich zuletzt, man nehme die Fußballspiele im Infektionsgebiet Großbritannien während der Europameisterschaft, eine Rangordnung ganz nach Popularität durchgesetzt, ohne Rücksicht auf die nachher in die Tausende gehende Zahl der Infizierten. Eine Rangordnung, die mit dem politischen Einfluss der veranstaltenden Verbände zu tun hat, nichts aber mit dem viel wichtigeren verfassungsmäßigen Wertesystem. Das ist derweil in bedauernswerter Weise aus dem Blick geraten.
entscheidungsfreiheit Das also können wir festhalten: Wenn es einen Bereich gibt, in dem die Akteure denkbar frei entscheiden können, dann ist dies die Religion, deren Ausübung einschließlich der Entscheidungsfreiheit, wie wir Juden unsere G’ttesdienste abhalten wollen. Wir müssen uns nicht gleichsetzen lassen mit Sport oder Kulturbetrieb. Der juristische Befund: nicht gänzlich schrankenlose Freiheit, aber vergleichsweise sehr weitgehende Freiheit.
Woran das nichts ändert? An Eigenverantwortung als moralischem Appell. Auf die Religion und ihre Vorgaben dazu will ich hier nicht eingehen. Da können Rabbiner mit Bezug auf halachische Quellen besser Auskunft geben. Der verfassungsrechtliche Befund ändert nichts an der Verantwortung der Gemeindevorstände.
Ich habe einschließlich unseres eigenen Vorstandes noch niemanden erlebt, der nicht äußerst gründlich nachdenkt.
Ich habe einschließlich unseres eigenen Vorstandes noch niemanden erlebt, der nicht äußerst gründlich nachdenkt. Wir kennen den Appell, »einen Zaun um die Tora zu bauen«, und da beobachte ich dieselben Bautätigkeiten auch um die verfassungsmäßigen Rechte. Sollten wir weiter gehen, um deutlich zu machen, dass wir Jom Kippur nicht mit einem Fußballspiel vergleichen lassen?
prinzipienreiterei Ich meine: Nein. Es ist, gerade angesichts vieler älterer, besonders gefährdeter Gemeindemitglieder, nicht die Zeit der Prinzipienreiterei. So gerne ich als Rechtsanwalt den notwendigen Konflikt suche, wenn es größeren Zielen dient: Hier schrumpfe auch ich auf ein kleinlautes Wesen zusammen, das sich an praktischer Vernunft orientiert, mehr der Nützlichkeit als der bis ins Äußerste gedehnten Legalität folgt.
Seien wir also stolz darauf, dass wir prinzipiell mehr könnten, und tun wir das praktisch Vernünftige. Immer wieder neu, in jeder spontan gegebenen Situation, die sowieso kein staatlicher Verordnungsgeber vollständig erfassen kann. Freiheit haben wir. Praktische Vernunft haben wir natürlich auch.
Der Autor ist Jurist, Vorstandsmitglied der Jüdischen Gemeinde Göttingen und Publizist. In Kürze erscheint sein neues Buch »Irgendjemand musste die Täter ja bestrafen« (Kiepenheuer & Witsch).