Schon seit mehreren Wochen befassen wir uns in den wöchentlichen Toraabschnitten mit dem Aufbau des Mischkans, des Heiligtums in der Wüste. Kein anderes Thema wird in der Tora so ausführlich behandelt. Das jüdische Volk beschäftigt sich weltweit jedes Jahr mehr als einen Monat lang gedanklich mit dem Aufbau eines wandernden Tempels, der vor knapp 3500 Jahren entstand. Manch einer mag sich dabei fragen, wozu ein derart intensives Studium notwendig sein soll, handelt es sich doch um ein längst vergangenes Thema.
Allgemein lässt sich darauf erwidern, dass die Thematik eines zentralen Heiligtums nicht an Aktualität eingebüßt hat. Es reicht schon, daran zu denken, dass sich Juden weltweit Tag für Tag drei Mal Richtung Jerusalem wenden, um das Gebet zu verrichten, dass die Synagogen nach Jerusalem orientiert sind und dass sich an der Frage des Status und der Heiligkeit des Tempelbergs bis heute Konflikte entzünden (oder zumindest einseitig daran festgemacht werden).
Widerspruch Doch darüber hinaus weist die Ausführlichkeit der Schilderung, wie der Tempel aufgebaut ist, auf eine theologisch profunde Widersprüchlichkeit hin: Kann denn G’tt, der die ganze Welt erfüllt, ja mehr noch, »der der Platz für die Welt ist« (Raschi-Kommentar 2. Buch Mose 33, 21), sich räumlich erfassen und eingrenzen lassen? Diese Frage ging schon König Salomo durch den Kopf: »Siehe, die Himmel und die Himmel der Himmel können Dich nicht erfassen – wie dann dieses Haus (der Erste Tempel zu Jerusalem), das ich erbaut habe?« (Könige I 8,27). Und wozu braucht und befiehlt G’tt das?
Diese tiefgründigen Fragen nach dem Wesen G’ttes wirft in Form einer Antithese auch Jehuda Halevi (1075–1141) in seinem Kusari (1, 1–4) auf. Diese besagt, dass G’tt derart über den Dingen steht, dass Er unmöglich mit unserer Welt irgendwelchen Kontakt sucht oder hat. Demgegenüber ruft die Tora aus: Aber sicher ist G’tt mit der Welt verbunden! Wozu hätte Er sie sonst erschaffen? G’tt steht in einer engen Beziehung mit dem Geschehen auf der Welt, mit dem Menschen, zeigt und offenbart sich gerade wegen und nicht trotz Seiner Größe in den kleinen Details dieser Welt.
So ruht Seine Präsenz auch in einem Haus, dem Heiligtum, in dem Er sich offenbart und dem Menschen die Gelegenheit gibt, mit Ihm zusammenzutreffen. Auch im Menschen ruht G’tt, hat Er ihm doch die Seele aus Seinem eigenen Wesen eingehaucht (1. Buch Mose 2,7; Talmud Brachot 10).
Der Unterschied zwischen heiligen und profanen Orten liegt nicht im Grunde des Wesens selbst, denn in jedem Ort befindet sich G’tt und belebt ihn. Der Unterschied liegt vielmehr in der Frage, ob sich G’tt an dieser Stelle offenbart oder verdeckt hält.
Keduscha Demselben Prinzip begegnen wir täglich im Gemeinschaftsgebet, wenn wir gemeinsam die Keduscha (Heiligung) rezitieren. Zunächst rufen wir aus und deklarieren: »Heilig, heilig, heilig (Kadosch, kadosch, kadosch) ist G’tt der Heerscharen, Dessen Ehre die ganze Welt erfüllt.« Gleich im nächsten Satz schränken wir scheinbar ein: »Gelobt sei G’tt von Seinem Ort aus.«
Auch hier erkennen wir wieder die Zweiseitigkeit der g’ttlichen Präsenz: Einerseits ist da G’ttes Allgegenwärtigkeit, die jeden Winkel dieser Welt erfüllt. Maimonides, der Rambam (1135–1204), formulierte es als Grundprinzip: »Denn alles Vorhandene ist von Ihm abhängig, nicht aber Er von irgendetwas anderem!« (Hilchot Jesode HaTora 1, 2–3). Andererseits hat G’tt Seine Präsenz quasi auf bestimmte Orte zurückgezogen und lässt damit dem Menschen den Freiraum, nach Ihm zu suchen und zu streben.
Psalmist Zu erhabenen Zeitpunkten – beim Abendgebet an Rosch Haschana und an Jom Kippur – wird vor geöffneter Lade Psalm 24 gelesen, der mit den gewaltigen Worten beginnt: »G’ttes ist die Erde und ihre Fülle, die Welt und ihre Bewohner.« Doch im nächsten Atemzug macht der Psalmist deutlich, dass es dennoch einen bestimmten heiligen Ort gibt: »Wer wird den Berg G’ttes besteigen, und wer am Platz seiner Heiligkeit bestehen? Wer reiner Hände und reinen Herzens ist, wer weder zu Unnötigem seine Seele tragen lässt noch betrügerisch schwört« (3–4).
G’tt erfüllt zwar die ganze Welt, aber dennoch liegt es am Menschen, die Stufen der Heiligkeit zu besteigen und mit Seiner Präsenz, Seiner Offenbarung aus eigenen Kräften und Streben zusammenzutreffen. So ist es ebendieser Ort, zu dem das gesamte jüdische Volk aufschaut und in Gedanken, im Herzen sowie in der Körperhaltung seine Gebete richtet, damit diese mit G’tt zusammentreffen können.
Der Prophet Jesaja kündigt an, dass sie künftig »Auge in Auge sehen werden, wenn G’tt nach Zion zurückkehrt« (52,8). Die Augen, die sich abgewandt haben: zuerst das jüdische Volk, das gegen Ende des Ersten und Zweiten Tempels seine Augen von G’tt abwandte und sich anderen Göttern oder schlimmen Sünden zuwandte. Und dann G’tt, der infolgedessen Seine Präsenz schrittweise zurückzog vom Heiligtum, vom Tempelberg und der Heiligen Stadt (Talmud Rosch Haschana 31a).
Seither suchen sich die Blicke, das himmlische Auge und das irdische Auge, und warten auf den Tag, an dem sie einander finden werden und es »Auge in Auge« erkennen können – dann, wenn G’tt nach Zion zurückkehrt.
Der Autor war Rabbiner der Synagogen-Gemeinde Köln. Seit März 2015 amtiert er in Karmiel/Israel.
Inhalt
Im Wochenabschnitt Wajakhel werden die Israeliten daran erinnert, das Schabbatgesetz nicht zu übertreten. Die Künstler Bezalel und Oholiab sollen aus freiwilligen Spenden Geräte für das Stiftszelt herstellen, und es wird die Bundeslade angefertigt.
2. Buch Mose 35,1 – 38,20