G’ttesdienst

Plädoyer für Stille

Beim Kol Nidre sollten die Beter in der Synagoge nicht miteinander plaudern – denn viel zu viel hängt davon ab

von Rabbiner Bryan Weisz  04.10.2022 08:53 Uhr

Der Autor in der Prager Altneuschul Foto: Avrom Frankel

Beim Kol Nidre sollten die Beter in der Synagoge nicht miteinander plaudern – denn viel zu viel hängt davon ab

von Rabbiner Bryan Weisz  04.10.2022 08:53 Uhr

Jedes Jahr in der Kol-Nidre-Nacht stimmt die Orgel in der Prager Jerusalemsynagoge die Beter kurz vor Sonnenuntergang auf den bevorstehenden Fastentag ein. Die Gemeinde hört den lauten Klang des Instruments und spürt den Ernst des Anlasses.

Das Ritual erinnert an vergangene Tage, als in der Prager Altneuschul zum Auftakt des Schabbats noch Musik gespielt wurde. Die Klänge tragen den Zuhörer aber noch viel weiter zurück in frühere Zeiten: zu unserem großartigen Tempel in Jerusalem.

Damals gingen die G’ttesdienste der Kohanim mit denen der Leviten Hand in Hand. Während die Kohanim predigten, leisteten ihnen die Leviten mit einem eigenen G’ttesdienst Gesellschaft. Jene spielten Harfe und Leier und begannen, Psalmen zu singen, sobald sich die Kohanim dem Opferkult widmeten. In vielerlei Hinsicht war die Musik der Leviten genauso wichtig wie der priesterliche Dienst: Das eine funktionierte nicht ohne das andere.

SCHLOMO LURIA Nach der Zerstörung des Tempels geriet das Gesamtkonzept der Instrumental­musik der Leviten in Vergessenheit. Doch im 16. Jahrhundert trat es in Prag wieder in Erscheinung. Die kabbalistische Bewegung und ihr Gründer Schlomo Luria (1510–1573) hauchten ihm neues Leben ein. Luria kannte die Macht der Musik: Er wusste, wie sie dabei hilft, Menschen im Gebet stärker an G’tt zu binden.

Seine Idee des G’ttesdienstes basierte auf dem Konzept des Schabbats im Tempel. Dieser G’ttesdienst war von großer Freude gekennzeichnet: Wohltuende Lieder versetzten die Menschen in einen freudigen Zustand, in dem sie die g’ttliche Präsenz gut spüren konnten. Eines der von den Leviten verwendeten Instrumente war die Magrefa, eine Art Orgel oder Rohrinstrument zum Geben von Signalen. Ihr Ton war so durchdringend, dass man ihn sogar im weit entfernten Jericho hören konnte.

Der G’ttesdienst an Jom Kippur ist sehr ernst, so wie es der Tag der Sühne mit sich bringt. Wir versuchen, in der Synagoge unserem Schöpfer so nah wie möglich zu sein, denn am verheißungsvollsten Tag des Jahres wird unser Schicksal im Buch des Lebens besiegelt.

Der Prager Rabbiner Elijah Spira (1660–1712) schreibt in seinem Buch Elijahu Rabbah: »Jemand, der während des Gebets spricht, hält seine eigenen Gebete davon ab, in den Himmel aufzusteigen, und verschafft sich selbst Ärger. Damit die eigenen Gebete erhört werden und die Ärgernisse sich so von Tag zu Tag schmälern, ist es geboten, während des Gebets ganz still zu sein und sich zu konzentrieren.«

GERICHTSSAAL In der Nacht von Kol Nidre leiten wir den heiligsten Tag des Jahres ein. Es ist so, als ob wir uns geradewegs in den Gerichtssaal begeben, um unser Urteil zu empfangen. Das ist ohne jeden Zweifel der Zeitpunkt, still zu sein.

Die Magrefa damals im Tempel war derart laut, dass sie die plaudernden Menschen übertönte. Wenn jedoch in der Prager Jerusalemsynagoge die Orgel spielt, hört man sie immer noch reden, und wenn die Musik verstummt, dann umso mehr. Betritt man ein Kino, in dem gerade ein neuer Film läuft, dann wird jeder, der nur das kleinste Geräusch macht, von den anderen verärgert ermahnt, ruhig zu sein. Warum nicht auch in der Synagoge?

Wenn der Vorbeter das Kol Nidre für eröffnet erklärt, sollten sich die Beter keinem Gespräch mehr hingeben, sondern sich voll und ganz auf ihr Gebet konzentrieren. Denn über das Musizieren und Beten können wir von G’tt viel Segen erhalten.

Der Autor ist Kantor in Prag.

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