Die jüdische Gemeinschaft in Deutschland erfreut sich ihrer durch Zuwanderung erreichten Größe. Doch wollen die Zweifel nicht weichen, dass der Zenit des Wachstums und der demografischen Konsolidierung bereits überschritten ist. Die Berechnungen des Jerusalemer Bevölkerungsforschers Sergio Della Pergola weisen darauf hin, dass die Zahl der Juden in Europa durch interkonfessionelle Ehen und sinkende Kinderzahlen zurückgehen wird.
Zukunft Dieses Problem lässt den Vizepräsidenten des Landesverbands der Israelitischen Kultusgemeinden in Bayern, Heinrich C. Olmer, nicht ruhen. Er hat daher eine Doktorarbeit geschrieben, die gewiss zu den wichtigsten Beiträgen zur Sicherung jüdischer Zukunft nicht nur in Deutschland gehört. Die Arbeit ist jetzt als Buch erschienen unter dem Titel Wer ist Jude? Ein Beitrag zur Diskussion über die Zukunftssicherung der jüdischen Gemeinschaft. Olmer wagt sich an ein heikles Thema: an die Frage, warum die Zugehörigkeit zum jüdischen Volk nur durch die Abstammung von einer jüdischen Mutter oder eine Konversion erlangt werden kann und nicht – wie doch in biblischen Zeiten – durch einen jüdischen Vater.
Die Fragen, wer Jüdin oder Jude ist und wer es wie werden kann, gehen über rein religiöse Belange weit hinaus. So hat der Staat Israel sein Chok ha Schwuth, das Rückkehrgesetz, seit Jahren den komplizierten Familienverhältnissen jüdischer Neueinwanderer aus der früheren Sowjetunion angepasst. Und die Zentralwohlfahrtstelle der Juden in Deutschland bietet in Zusammenarbeit mit der Orthodoxen Rabbinerkonferenz seit Neuestem Kurse für konversionswillige Kinder jüdischer Väter an.
Anders als Europa hat das Reformjudentum in den USA schon vor vielen Jahren beschlossen, dass auch Kinder jüdischer Väter Bat- oder Barmizwa werden können, sofern ihre Väter sie nicht nur gezeugt, sondern auch jüdisch erzogen haben. Ansonsten ist Jüdin oder Jude, wer entweder von einer jüdischen Frau geboren wurde oder vor einem als legitim anerkannten Rabbinatsgericht (Bet Din) nach jahrelangem Lernen von Tora, Talmud und Halacha, mehrfach geprüfter Entscheidung und entspre- chenden warnenden Vorhaltungen offiziell übergetreten ist.
Bezüglich des komplexen Verhältnisses von Ethnizität und Religion im Judentum heißt dies: Man kann durch eine religiöse Zeremonie zum Angehörigen eines Ethnos werden, während Personen, denen jede Religiosität gleichgültig oder gar verächtlich ist, im religiösen Sinne selbst dann als Juden gelten, wenn sie von einer im Extremfall ebenfalls unreligiösen Mutter geboren wurden – sofern diese ihrerseits eine nachweislich jüdische Mutter hatte.
Matrilinearität Zunächst sind einige Fragen zu klären: Wann entstand das Judentum als Religion? Wann und unter welchen Umständen wurde die Matrilinearität als Kriterium der Zugehörigkeit durchgesetzt? Was weiß die Religionsgeschichte? Wer waren in der Antike »die Juden«? Der amerikanische Gelehrte Shaye J. D. Cohen hat zu dieser Frage eine bahnbrechende Monografie geschreiben: The Beginnings of Jewishness. Boundaries, Varieties, Uncertainties. Cohen weist nach, dass Juden in der griechisch-römischen Antike vor dem Jahre 90, abgesehen von ihren religiösen Bräuchen, in keiner Hinsicht von anderen Menschen zu unterscheiden waren und es weiterhin keine öffentlich nachprüfbaren Verfahren gab, um festzustellen, ob jemand – sieht man einmal von der männlichen Pflicht zur Beschneidung ab – zu Recht zum Judentum konvertiert war.
Die klassischen Belegstellen für das Matrilinearitätsprinzip in seinen beiden Teilen finden sich zunächst in der Mischna, in Kidduschin 3,12 und Jevamot 4,13. Dort geht es um Kinder, die aus unehelichen Verbindungen hervorgehen. Nach einer sorgfältigen Analyse von sieben möglichen Gründen für die Einrichtung des Matrilinearitätsprinzips – Belege aus dem Tenach, Bezug auf Esra, Hinweise auf die Ungewissheit der Vaterschaft, auf die Intimität des Mutter-Kind Verhältnisses, Rückstände eines archaischen Matriarchats, eines Verbots der Vermischung einander entgegengesetzter Substanzen – kommt Cohen zu dem Schluss: Es ist am wahrscheinlichsten, dass die Rabbinen stillschweigend römische Rechtsgrundsätze übernahmen, wonach Kinder unter allen Umständen ihren Müttern zuzuordnen sind.
Indes: Letzten Endes muss auch Cohen anlässlich der Erkenntnis, dass bis zur Zeit der Mischna, also bis Ende des 2. Jahrhunderts christlicher Zeitrechnung, unter den Juden nur das Patrilinearitätsprinzip galt, eingestehen, nicht zu wissen, warum die Rabbinen mit der früheren Praxis brachen.
Versklavung Olmer, der in seiner Argumentation Cohen weitgehend folgt, zieht den Schluss: Angesichts der Versklavung und Verschleppung jüdischer Männer nach dem gescheiterten Bar-Kochba-Aufstand setzten die Rabbinen, um das jüdische Volk zu erhalten – wenn auch unbewusst – an die Stelle der väterlichen die mütterliche Abstammung. Ob es sich dabei um eine gesicherte, durch die Quellen belegte Einsicht oder um eine Rückprojektion von heute aus handelt, muss zunächst offen bleiben.
Auf jeden Fall zeichnet sich heute ab, dass – mit Ausnahme des Staates Israel – das Matrilinearitätsprinzip zu einem kontinuierlichen Schrumpfen des jüdischen Volkes führt. So leben in den USA etwa 5,3 Millionen Juden, wobei hier unter Jude kaum mehr verstanden wird als eine irgendwie bewusste und anerkannte verwandtschaftliche Herkunft und nicht etwa die Zugehörigkeit zu einer Synagogengemeinde. Legt man bei der Zählung das strengere halachische Prinzip zugrunde, schrumpft die Zahl US-amerikanischer Juden auf 3,2 Millionen. Vergleichbare Anomalien herrschen in Israel. Dort dürfen zwar aufgrund vieler Änderungen des Rückkehrgesetzes auch Menschen einwandern, die nicht im engen Sinne halachische Juden sind, doch können sie in Israel, das ja keine Zivilehe kennt, nicht heiraten, sofern sie nicht zuvor eine förmliche Konversion vollzogen haben.
In dieser Situation plädiert Olmer dafür, auch die patrilineare Abstammung als hinreichendes Kriterium der Zugehörigkeit zum Judentum wiedereinzuführen: Wenn es historischen Umständen geschuldet war, im zweiten Jahrhundert gegen die biblischen Abstammungsregeln die Mischna der Matrilinearität einzuführen, sollte es gemäß dem Geist des rabbinischen Pragmatismus doch heute möglich sein, die Matrilinearität zwar nicht abzuschaffen, sie aber doch um die Patrilinearität zu ergänzen.
Olmer lässt offen, wie das konkret geschehen kann. Er äußert sich kaum dazu, ob er dafür wirbt, einen jüdischen Erzeuger als hinreichendes Kriterium zu akzeptieren, oder ob er für die nordamerikanische und britische Variante des liberalen Judentums eintritt, Personen dann als Jüdinnen oder Juden anzuerkennen, wenn sie von ihren Vätern auch jüdisch erzogen worden sind. Tatsächlich spricht viel für die Übernahme dieser Praxis. Denn sie schafft über ein rein demografisches, spirituell und intellektuell unerhebliches Wachstum hinaus einen deutlichen Anreiz zur jüdischen Bildung.
Praxis Olmer äußert sich nicht dazu, wie sein Vorschlag praktisch umgesetzt werden kann, obwohl der Weg dazu vorgezeichnet ist: Als Erstes könnten sich die liberalen und konservativen Gemeinden und Dachverbände des Judentums in Deutschland dieser Frage intensiv widmen, um dann – sofern der Vorschlag Zustimmung findet – an die Allgemeine Rabbinerkonferenz (ARK) heranzutreten. Sollte auch sie damit einverstanden sein, stünde nichts mehr im Wege. Jede Bar- und Batmizwa, die auf diese von der ARK gebilligte Weise vollzogen wurde, würde als Kriterium für die Mitgliedschaft in einer jüdischen Gemeinde akzpetiert werden. Immerhin – das neue Direktorium und der neue Präsident des Zentralrats haben es versprochen – befinden wir uns in einer neuen Phase des innerjüdischen Pluralismus. Dazu dürfte wesentlich gehören, in Zukunft auch »Vaterjuden« – sofern sie jüdisch erzogen wurden – den Weg in die Gemeinden zu öffnen.
Der Autor ist Erziehungswissenschaftler und lehrt als Professor an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main.
Debattengrundlage
Heinrich C. Olmer: Wer ist Jude? Ein Beitrag zur Zukunftssicherung der jüdischen Gemeinschaft. Ergon-Verlag, Würzburg 2010, 243 S., 34 Euro.