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Wohnung

Ort der inneren Ruhe

An Sukkot laden wir nicht nur reale, sondern auch biblische Gäste ein; hier eine Familie beim Laubhüttenbau im eigenen Garten Foto: picture alliance / Newscom

Bekannterweise gibt es im Judentum drei Wallfahrtsfeste. In der Vergangenheit, als der Tempel in Jerusalem stand, sind die Kinder Israels an Pessach, Schawuot und Sukkot zum Tempel gepilgert. Im Gebet der Wallfahrtsfeste wird Pessach als »die Zeit unserer Freiheit« bezeichnet. Und Schawuot wird die »Zeit der Tora-Offenbarung« genannt.

Welche Bezeichnung würde für Sukkot passen? »Die Zeit der Laubhütten« vielleicht? Oder »die Zeit der vier Arten«? Unsere Weisen nennen Sukkot »die Zeit unserer Freude«. Anders als bei den anderen beiden Wallfahrtsfesten steht nicht der historische Charakter des Festes im Mittelpunkt, sondern der emotionale Charakter.

Wieso ist Sukkot ein Fest der Freude, und wieso feiern wir Sukkot gerade im Herbst? Das Sukkotfest ist immerhin eine Erinnerung an unsere Vorfahren, die nach dem Auszug aus Ägypten in den gesamten 40 Jahren der Wüstenwanderung in provisorischen Wohnungen (Sukkot) wohnten. Es wäre also genauso logisch, sich im Sommer oder im Winter an die Wohnorte der Vorfahren zu erinnern! Der Zusammenhang von Freude und der Laubhütte ist ebenfalls nicht offensichtlich!

kälte Wir feiern Sukkot gerade im Herbst, wenn die Kälte wiederkommt und die Nächte länger werden. Gerade dann, wenn wir uns an die neue Instabilität der Umgebung gewöhnen müssen, müssen wir zusätzlich unseren stabilen Wohnort verlassen und in die provisorischen Laubhütten ziehen.

Die gefallene Sukka, die Laubhütte Davids, ist eine Metapher für den Tempel.

Der Grund, weshalb wir Sukkot im Herbst feiern, und der Grund, wieso es eine Zeit der Freude ist, liegen beide darin, dass die Freude und innere Ruhe, die ein Mensch im Höhepunkt der Instabilität und des Chaos zu spüren vermag, die größte Freude überhaupt ist.

grundfesten Die Botschaft der Sukka lehrt uns: Auch wenn die Nächte länger und länger werden und das aktuelle Zuhause nur provisorisch ist, und wenn der Sturm nicht nur aufzieht, sondern auch die Grundfesten deines Wohnorts erschüttert, in genau diesem Moment des großen Sturms sollst du wissen: Vertrau darauf, dass du auch im Chaos von der Liebe G’ttes umgeben und von seiner persönlichen Führung geleitet wirst.

Im Birkat-Hamason-Gebet, das nach dem Essen gesprochen wird, muss während des Sukkotfestes die folgende, zusätzliche, Bitte erwähnt werden: »Der Barmherzige soll die gefallene Laubhütte Davids wiederherstellen!« Die gefallene Sukka, Laubhütte Davids, ist eine Metapher für den Tempel. Die Wiederherstellung des Tempels ein Ausdruck der Hoffnung auf Erlösung, die mit dem Aufbau des Tempels verbunden wird.

Wieso ist die Sukka eine Metapher für den Tempel? Eine der Erklärungen lautet, dass genau, wie eine abgebaute Sukka innerhalb kürzester Zeit wiederaufgebaut werden kann, mit G’ttes Hilfe auch der Tempel – trotz seiner Zerstörung – jederzeit wiedererrichtet werden kann. Der Tempel als Ort der Wunder und Symbol der Erlösung lehrt den Menschen, der die Sukka betritt: Deine persönliche Erlösung kann jederzeit geschehen. Gib die Hoffnung nicht auf!

Hoffnung Hierbei muss betont werden, dass die Botschaft der Tora, die Hoffnung in schweren Zeiten nicht aufzugeben, keine Floskel ist – keine dahergesagten Worte, nur um die Leidenden zu beruhigen. Die Tora ist eine Tora der Wahrheit. Nicht ohne Grund sagt der zur Tora-Lesung aufgerufene Jude den Segen: »Gelobt seist Du, G’tt, König der Welt, der uns die Tora der Wahrheit gegeben hat und die Ewigkeit in uns pflanzte!«

Die Tora drückt aus, was der innere Mechanismus des Erdgeschehens ist. Sie benennt den Code hinter allem, was geschieht, und sie sagt klar und unmissverständlich: Gerade in der Schwere liegt die Erlösung. Nicht, dass die Erleichterung trotz der Schwere passiert, sondern dass die Erleichterung aufgrund der Schwere passiert. Im Grund des Leidens liegt der Grund der Erlösung.

Beispiele hat die Tora genug: Awraham und Sara sind unfruchtbar. Sie können keine Kinder bekommen. Doch sie geben die Hoffnung nicht auf, und G’tt schenkt ihnen schließlich einen Sohn, Jizchak. Auf den ersten Blick die Geschichte eines Problems und einer anschließenden Erlösung.

erlösung Unsere Rabbiner lehren, dass die Seele Jizchaks so besonders ist, sein Einfluss auf das künftige Weltgeschehen so fundamental, dass der himmlische Ankläger alles tat, um seine Geburt zu verhindern. »Die Welt hat es nicht verdient, so einen besonderen Menschen wie Jizchak zu erhalten!«, war sein durchaus nachvollziehbares Argument. Doch die unzerstörbare G’ttesliebe von Awraham und Sara, ihrer Kinderlosigkeit zum Trotz, machte sie würdig, Jizchak zu zeugen. Ihr Problem beförderte die Erlösung und G’ttes kurzzeitiges Vorenthalten seiner Güte eine verborgene und noch viel größere Güte.

Später befiehlt G’tt, dass Jizchak getötet werden soll. Vater und Sohn sind bereit, den g’ttlichen Wunsch auf sich zu nehmen. G’tt stoppt die Opfergabe Jizchaks und schickt stattdessen einen Widder. Beim Heruntersteigen vom Berg Moria, dem Berg der Opfergabe (der später zum Tempelberg wurde), erfährt Awraham, dass Jizchaks künftige Frau Riwka geboren wurde. Wieder die Geschichte eines Tests und ein darauffolgender Segen.

Es liegt an uns, die Botschaften des Sukkotfestes in die Tat umzusetzen.

Auch hier verhält es sich nach demselben Prinzip. Die Anklage hielt daran fest, dass Riwka auf gar keinen Fall geboren werden darf. Das heilige Paar Jizchak und Riwka, aus deren Verbindung Jakow, der Vater Israels, stammt, darf nicht zustande kommen. »Sie haben es nicht verdient!«, spricht die Anklage.

Doch die Aufopferung Awrahams und Jizchaks sorgten dafür, dass Riwka in die Welt kommen konnte. Der Test ist die versteckte Quelle des Segens. Die Botschaft der Tora ist eins mit der Botschaft der Sukka. Draußen in der Unbehaustheit, gerade dann, wenn es kälter wird, zu sehen, dass die Instabilität keine Quelle des Leidens, sondern eine Quelle der Freude ist, der Vorfreude auf alles, womit G’tt uns nach der Phase der Schwere erleichtern wird!

Am Sukkotfest gibt es zwei weitere Besonderheiten. Im Tempel wurden nicht nur Opfer für die Juden, sondern für alle Nationen der Erde gebracht. Am Sukkotfest laden wir nicht nur Gäste ein, sondern unsere Gastfreundschaft erstreckt sich auch auf die Uschpisin, biblische Personen, die wir einladen, mit uns am Tisch zu sitzen.

liebe Ich denke, alle genannten Punkte verschmelzen: innere Ruhe im Sturm des Lebens, Liebe für alle Völker der Welt, Gastfreundschaft, die selbst der anderen Welt die Hände reicht.

Wenn wir Juden die Botschaft der Sukka, die auch die Botschaft der Tora ist, verinnerlichen und verstehen, dass alles nur zu unserem Besten passiert, dann haben wir genug innere Kraft, um unsere Liebe außerhalb der Grenzen unseres Volkes wirken zu lassen, Opfer für alle Nationen der Erde zu bringen und unsere gebenden Hände auch über die Grenzen dieser Welt hinweg (zu den Uschpisin) auszustrecken.

Besonderes in unseren schweren Zeiten, in denen leider immer noch der russische Angriffskrieg in der Ukraine tobt und Millionen von Menschen ihr Zuhause verloren haben, liegt es an uns, die Botschaften des Sukkotfestes in die Tat umzusetzen und dadurch ein echtes »Licht für die Völker« zu werden.

Dies geschieht, indem wir unseren aus der Ukraine dazugestoßenen Brüdern und Schwestern (damit meine ich alle Ukrainerinnen und Ukrainer, die unsere Brüder und Schwestern in der Menschheitsfamilie sind, nicht nur die jüdischen Ukrainer!) zeigen, dass das jüdische Volk die Hände zur Hilfe ausstreckt.

Wir müssen allen Ukrainern die Hand zur Hilfe ausstrecken, nicht nur den jüdischen.

Wir helfen mit allem, was nötig ist, und vergessen nicht, neben Gebeten für alle Menschen, die es nötig haben (das Gebet ist in der Zeit ohne Tempel der Ersatz für die Opfergaben), auch physische Gastfreundschaft und Hilfe zu leisten.

Beʼesrat Haschem, mit G’ttes Hilfe, sollen wir alle würdig werden, die geistigen Dimensionen des Sukkotfestes zu verinnerlichen, und dadurch ein lebendiges Beispiel für »Or LaGojim« – ein Licht für die Nationen – werden!

Der Autor ist Religionslehrer und Sozialarbeiter der Jüdischen Gemeinde Osnabrück.

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