Die letzten Tage des Monats Siwan erwecken in uns jedes Jahr aufs Neue die Erinnerung an die Verfolgung. Wir denken an die Zeit der Mischna, als nach der Niederlage von Bar Kochba in Beitar der große Rabbiner Chananja ben Tradjon von Frevlern getötet und mit ihm seine Torarolle verbrannt wird. Und daran, wie zur Zeit der Kreuzzüge die jüdischen Gemeinden am Rhein heimgesucht werden. Während des G’ttesdienstes 1096 wird die Wormser Gemeinde niedergemetzelt. Ähnliches geschieht in Mainz, Köln und Bacharach. Im 12. Jahrhundert kommt in der französischen Stadt Blois ein unvorstellbares Martyrium über die dortige Gemeinde, und die Gelehrten Rabbi Jechiel ben David und Jekutiel ben Jehuda schritten mit ihren Gemeinden »G’tt lobend und mit Gesang« zur eigenen Hinrichtung. In den Jahren 1648/49 beim Aufstand der Kosaken gegen die polnische Herrschaft verlieren hunderttausende Juden ihr Hab und Gut, und auf oft grausame Art auch ihr Leben.
In diese Zeit gegen Ende des Monats Siwan fällt auch die Aussendung der zwölf Kundschafter durch Mosche. Um es vorwegzunehmen, das ganze Unternehmen läuft auf g’ttliches Geheiß, doch irgendwie geht etwas daneben: Außer Jehoschua und Kalew wird eine ganze Generation vom Himmel mit ihrem Leben kollektiv schwer bestraft. In der Wüste müssen sie sterben, und ihr eigentliches Ziel, Eretz Israel, bleibt ihnen versagt.
geistige verfassung Bei Mosche Rabbeinu steht außer Zweifel, dass er für sich allein es nicht nötig gehabt hätte, extra Kundschafter loszuschicken. Mit dem Auszug aus Ägypten und dem Empfang der Tora am Berg Sinai erlebt er selbst die führende g’ttliche Hand. Und das Ziel der Verheißung seit Awrahams Zeiten bleibt für ihn sowieso unantastbare Prophetie. Doch wie steht es mit der geistigen Verfassung des Volkes und der Kundschafter? Bei näherer Betrachtung müssen wir feststellen, dass die Kundschafter – außer zweien – den Inhalt ihrer Aufgabe nicht richtig mitbekommen hatten. Die Tora verwendet drei verschiedene Verben, um den Auftrag des Kundschaftens zu bezeichnen. Im 5. Buch Moses 1,22 heißt es: »Da tratet ihr alle zu mir hin und sagtet: Wir möchten Männer vor uns her senden, dass sie das Land ausspähen (wajachperu) und uns Antwort bringen über den Weg«.
Spion Die erlebten Wunder der Erlösung aus der Sklaverei scheinen irgendwo im Dunst der jüngsten Vergangenheit einer spirituellen Gedächtnistrübung zum Opfer gefallen zu sein. Politisch wird Staatsräson vorgeschoben, eine operative Machbarkeitsstudie wird allgemein eingefordert, von Tora und Glauben ist weit und breit keine Spur mehr zu finden. Den zweiten Ausdruck finden wir im 5. Buch Moses 1,24: »und erkundeten es (wajraglu)«. Der Meragel, der Spion, durchkämmt zu Fuß die Gegend. Ein mit modernsten Instrumenten ausgerüstetes Agententeam soll einen genauen Plan zur Einnahme des Landes erstellen.
Erst mit dem dritten Ausdruck, »latur«, – »erforschen sollen sie das Land Kanaan« (4. Buch Moses 13,2) – fangen wir an zu begreifen, was der eigentliche Auftrag der Kundschafter war: Der Ewige hatte von ihnen erwartet, dass sie durch die Berührung, den Kontakt mit dem geheiligten Boden von Eretz Israel, eine spirituelle Infusion höchster Qualität erhalten würden. Er hatte erwartet, dass sie das durch den Segen G’ttes Gelobte Land als absolut gut empfinden, dadurch eine Bereicherung des eigenen geistig-moralischen Lebens erfahren, und so zu mehr Verständnis und Streben nach dem in der Tora vorgegebenen Erlangen des Guten kommen würden.
aufglühen Mosche spricht zu ihnen: »Und ihr sollt sehen das Land (ha-Aretz) … und das Volk (ha-Am)« (4. Buch Moses 13,18). Allein einen Blick auf das verheißene Land zu werfen, hätte genügen können, in den Herzen der Kundschafter die Liebe zu Eretz Israel aufglühen zu lassen. Sie hätten den Wartenden das Land begreifbar machen sollen. Die Kundschafter waren dort, haben alles gesehen, sind sogar mit riesigen Früchten zurückgekehrt, doch hatten sie das Wesentliche übersehen. Anstatt für das Land zu werben, wurden sie zum unkalkulierbaren Risiko, zum Stolperstein einer ganzen Generation.
Nicht von ungefähr wird jemand, der sich in jüdischen Begriffen nicht auskennt, als Am ha-Aretz bezeichnet, hat er doch sein Volk und sein Land ungenügend erforscht. So ist Unwissenheit in jüdischen Belangen mithin einer der größten Mängel und Gefahren unserer Generation. Einzig ein Intensivieren jüdischer Bildung für alle, Jung und Alt, kann dem entgegenwirken.
Zizit Am Ende unseres Wochenabschnitts erfolgt ein weiteres Mal der Ruf: »Und ihr sollt sie sehen – gemeint sind die Eckfäden eines Gewandes (Zizit)« (15,39). Das kognitive Erfassen dieser Mizwa, dieser Anblick, wird euch dazu bringen, dass ihr Euch an alle Gebote des Ewigen erinnern werdet. Ansonsten werden wir mit Ben Asaj feststellen müssen (Talmud, Brachot 47), dass derjenige, der an die Ecken seines Kleides keine Schaufäden anbringt, als Am ha-Aretz befunden wird.
Das Zizit-Gebot ist die unmittelbare Antwort und Anleitung für eine Generation, die die Zeichen der Zeit verkannt hat und ihre eigenen Chancen ungenutzt hat verstreichen lassen.
Der Autor ist Landesrabbiner der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württembergs (IRGW).