Frage: Was haben der Brahmananda Saraswati, der Bhagwan Shree Rajneesh, Rabbi Chaim Vital und der Admor von Piaseczno gemeinsam? Antwort: Alle vier haben jeweils ihrer Religion oder Philosophie entsprechende Meditationstechniken entwickelt. Viele werden nun sagen: Okay, dass Brahmanen und Sannyasins ihre Erleuchtung in Abgeschiedenheit suchen, ist bekannt. Aber das sich auch italienische Kabbalisten oder polnische Chassiden der Erlangung innerer Harmonie, Ruhe und Ausgeglichenheit gewidmet haben, das klingt ungewöhnlich.
Diese und ähnliche Aussagen kennt Natan Ophir nur zu gut. Der Rabbiner und Gründer des Jewish Meditation Institute Jerusalem bedauert, dass die uralten Ideen und Techniken in Vergessenheit geraten sind. Viele junge Juden würden auf ihrer Suche nach spiritueller Bereicherung in Fernost etwas entdecken, was das Judentum schon seit jeher zu bieten habe. »Auch einer meiner Söhne ist mit seiner Frau nach Indien gegangen. Als er zurückkam, habe ich ihn gefragt, warum er nicht mit mir gelernt hat. Menschen müssen weit reisen, um zu entdecken, was sie zu Hause finden können.«
Warum das Wissen um die jüdische Meditation so in Vergessenheit geraten ist? »Eine Menge der Meditationstechniken waren esoterisch, und sie waren für eine Elite gedacht. Nur wenigen war damals gestattet, in die Geheimnisse eingeweiht zu werden. Frauen war das zum Beispiel nicht erlaubt. Heute ändert sich das durch das Internet und die Globalisierung. Man kann jetzt viele Geheimnisse erfahren.«
Quellen Ophir verweist auf den US-amerikanischen Rabbiner und Autor Aryeh Kaplan, der in seinem Buch Jewish Meditation schreibt: »Hinweise auf die Meditation sind in wichtigen jüdischen Texten in allen Zeiten – von der biblischen bis zur prämodernen – zu finden. Ein Grund, warum dies nicht allgemein anerkannt wird, ist, dass das Vokabular der Meditation weitestgehend verloren gegangen ist, insbesondere im vergangenen Jahrhundert.«
Kaplan erwähnt hier die jüdische Aufklärung, die das intellektuelle Niveau ansprechen wollte, Rationalismus auf Kosten anderer jüdischer Werte. Die jüdische Mystik allgemein und speziell die Meditation seien davon betroffen gewesen. »Aus diesen und anderen Gründen verschwanden alle Bezüge aus der jüdischen Mainstream-Literatur vor ungefähr 150 Jahren.«
Aus dem Lateinischen abgeleitet kommt das Wort »meditatio« vom Verb »meditari«, das nachdenken, nachsinnen oder überlegen bedeutet. Im Hebräischen gebe es dafür keine direkte Übersetzung, so Kaplan weiter. Gleichwohl gebe es sinnverwandte Begriffe, die in der Tora auftauchen. Aus biblischen und selbst vorbiblischen Quellen sei überliefert, dass die Meditation eine zentrale Bedeutung bei der prophetischen Erfahrung hatte. »Es gibt auch Belege dafür, dass in der Zeit, in der die Bibel geschrieben wurde, Meditation von einem großen Teil des israelischen Volkes praktiziert wurde«, heißt es in dem Buch.
Zugang Rabbiner Ophir ist also im traditionellen Sinne tätig. Gleichzeitig geht es ihm um die Verbindung von klassischen jüdischen Quellen mit modernen Meditationstechniken. Ein Angebot für jedermann, wie er meint: »Denn das ist die ganze Idee: dass sich jeder mit der jüdischen Meditation verbinden kann, von welchem Ausgangspunkt auch immer. Für viele Menschen ist das einfacher, als die gesamten 613 Mizwot zu akzeptieren oder sozusagen über Nacht religiöser Jude werden zu müssen. Das ist ein Zugang zu neuer Spiritualität und Bedeutung.«
Diesen Zugang sollen die Weisheiten des Rambam (Rabbi Mosche ben Maimon, Maimonides), Rabbi Chaim Vital, Rabbi Abraham Kook oder des Admor von Piaseczno ermöglichen.
Ophir will eben auch bislang verborgene Quellen wieder zugänglich machen. Zum Beispiel die aus dem 16. Jahrhundert stammende von Rabbi Chaim Vital, einem Schüler von Rabbi Yitzchak Luria, dem Arizal, der seine Meditationstechniken in einem Tagebuch aufgeschrieben hat. »Das ist erst vor Kurzem veröffentlicht worden. Er hat das Buch Shaarei Kedusha, Tore der Heiligkeit, geschrieben, dessen vierter Teil nie zuvor gedruckt wurde. Warum? Weil er eine Sammlung von 15 bis 20 Meditationstechniken enthielt, die hauptsächlich von Kabbalisten genutzt wurden.«
Auch aus der chassidischen Bewegung sind verschiedenste Meditationstechnikenüberliefert. »Der Baal Schem Tow hat die Tore geöffnet. Die ihm nachfolgten, zum Beispiel sein Urenkel, Rabbi Nachman von Breslaw, hatten eine ganz besondere Meditationstechnik, die man Hitbodedut nennt.«
Dabei geht es um ein intensives und direktes Gespräch mit Gott, bei dem man sein Herz ausschütten und jedes erdenkliche Problem erörtern soll, in der abgeschlossenen Umgebung eines Raumes oder auch fernab von allem in der freien Natur. »Wenn ein Mensch draußen auf Wiesen und Feldern meditiert, werden alle Gräser in sein Gebet einstimmen und dessen Wirkung und Kraft verstärken«, meinte Rabbi Nachman.
Techniken Zu den aus den Lehren der jüdischen Quellen stammenden Meditationsübungen gehört zum Beispiel eine Visualierung nach Rambams Werk Moreh Newuchim, Führer der Verwirrten, mit der Imagination eines Springbrunnens, einer Quelle oder eines Wasserfalls – mit sprudelndem frischen Wasser, gleich Gottes Segen.
Oder eine meditative Handhaltung, gelehrt von Rabbi Chaim Vital: »Er erwähnte, dass man die Hände so offen halten muss wie beim hebräischen Buchstaben Schin, um den Segen zu bekommen. Das ist der Weg, wie sie damals göttliche Inspiration aufnahmen, um sie in innere Energie umzuwandeln.«
Eine Entspannungsübung entstammt aus dem Werk des Admor von Piaseczno. Der lehrte, einen Vers aus Psalm 86 wie ein Mantra aufzusagen: »Hareni Haschem darchecha« (Lehre mich, Ewiger, deinen Weg). Unterschiedliche Techniken für verschiedene Ziele. Es gibt viele Formen von Meditationen, erläutert Rabbiner Ofir: »Es hängt davon ab, wie man Meditation definiert. Es kann einfach Erholung und Entspannung sein, es kann ein spirituelles Erlebnis sein, oder die Vertiefung einer Gebetserfahrung.«
Ergebnis Neben geistiger Tiefe stelle sich damit mehr Gelassenheit und Zufriedenheit ein. Stressbedingter Bluthochdruck könne damit unter anderem behandelt werden. Selbst für Dicke bietet der Rabbiner im Jewish Meditation Institute Lösungen an: »Ich habe hier freitagsmorgens einen Kurs mit Frauen, die Übergewicht haben. Wir nutzen Ess-Meditationen, sodass sie beginnen können, ein gesünderes Leben zu führen, mit mehr Aufmerksamkeit für das Essen. Sie lernen, die Speisen mehr zu genießen und sich beim Essen nicht schuldig zu fühlen.«
In diesem Sinne sei Meditation in alle Bereiche des jüdischen Lebens integrierbar, meint Ophir. »Damit lässt sich Kawana finden, im Gebet, in unserem täglichen Tun und unseren Gedanken. Es geht um das spirituelle Level von allem, was wir denken, fühlen und tun.«
Worin aber unterscheidet sich die jüdische Meditation von den anderen? »Judentum hat einem bestimmten theologischen Rahmen: Glauben, Verstehen, Tradition, Geschichte. Und das wird auf die Meditation projiziert.«
Natan Ophir stammt aus Philadelphia/USA. 1975 begann er, Meditation und Yoga zu lernen und zu praktizieren. Während seiner 16-jährigen Tätigkeit als Campus-Rabbiner der Hebräischen Universität Jerusalem hat er bereits begonnen, das Erlernte weiterzugeben. Seit mehreren Jahren unterrichtet er in dem von ihm gegründeten Jewish Meditation Institute. www.jewishmeditation.org.il