Auf einer Reise mit Studenten und Absolventen des Berliner Rabbinerseminars habe ich vor einiger Zeit Litauen besucht. Zu den ersten Juden, die sich dort niederließen, gehörte eine kleine Gruppe, die als Karäer bekannt war. Sie entstand im 8. und 9. Jahrhundert in der islamischen Welt – eine abtrünnige Gruppierung, die sich von anderen Juden dadurch unterschied, dass sie nur die geschriebene Tora anerkannte und nicht die mündliche Überlieferung des Talmuds.
Überraschenderweise gibt es im litauischen Städtchen Trakai auch heute noch eine kleine karäische Gemeinde. Auf den ersten Blick wirken ihre Häuser von außen einladend, bis man einen Unterschied zu den anderen Häusern bemerkt: Sie haben keine Türen zur Straße hin, sondern an den Seiten. Wer sich in der Gegend nicht auskennt, weiß also nicht, wie er da hineinkommt.
In unserem Wochenabschnitt geht es um Tiere, deren Fleisch gegessen werden darf
In unserem Toraabschnitt Schemini, den wir in dieser Woche lesen, geht es um Tiere, deren Fleisch gegessen werden darf. Wir lernen, dass der Schein manchmal trügt und dass etwas, obwohl es koscher erscheinen mag, nicht immer auch tatsächlich koscher ist.
Anders als bei koscheren Säugetieren und Fischen, die durch klare Merkmale identifiziert werden können, ist das Einschätzen, ob ein Vogel koscher ist, schwieriger. Die Tora listet die Namen aller nicht koscheren Vögel auf und weist darauf hin, dass die Arten, die nicht auf der Liste stehen, koscher sind. Zu den verbotenen Vögeln gehört auch der Storch – hebräisch: Chasida, ein Wort, das auch »rechtschaffen« bedeutet. Raschi (1040–1105) erklärt, dass der Name daher rührt, dass der Storch anderen seiner Art gegenüber Güte zeigt, indem er seine Nahrung mit ihnen teilt.
Warum sollten wir aber keinen Vogel essen dürfen, dessen Verhalten als gütig beschrieben wird, da dies doch eine erwünschte Charaktereigenschaft ist?
Eine Erklärung dafür ist, dass der Fehler des Chasida darin besteht, dass er nur seinen Freunden beziehungsweise Artgenossen gegenüber Güte zeigt und andere gefiederte Arten ausschließt. Das ist für einen Vogel in Ordnung, aber wir Menschen sollen Güte nicht nur denen entgegenbringen, die wir kennen. Die Tora lehrt uns, dass Chesed auch für andere außerhalb unseres eigenen Kreises gelten muss. Deshalb wurde der Chasida für unseren Verzehr verboten.
Manchmal trügt der erste Eindruck
Die Straße mit den karäischen Häusern, die noch heute im litauischen Trakai stehen, erinnert uns daran, dass der erste Eindruck manchmal trügt. Auch wenn die Häuser von außen schön aussehen, wissen nur diejenigen, die sie kennen, wie man hineinkommt. Die Bewohner sind Fremden gegenüber abweisend und unfreundlich.
Unsere Tradition lehrt jedoch, dass unsere Häuser, Gemeinden und Synagogen nicht nur auf diejenigen, die wir gut kennen und die regelmäßig zu uns kommen, freundlich und einladend wirken sollten, sondern auf alle. Es gilt, alle freundlich zu empfangen.
Der Autor ist Rabbiner in London.
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Der Wochenabschnitt Schemini schildert zunächst die Amtseinführung Aharons und seiner Söhne Nadav und Avihu als Kohanim (Priester) sowie ihr erstes Opfer. Dann folgt die Vorschrift, dass die Priester, die den Dienst verrichten, weder Wein noch andere berauschende Getränke trinken dürfen. Der Abschnitt listet auf, welche Tiere koscher sind und welche nicht, und er erklärt, wie mit der Verunreinigung durch tote Tiere umzugehen ist.
3. Buch Mose 9,1 – 11,47