Der Wochenabschnitt Wa’etchanan ist einer der tragischsten der Tora. Wir erfahren in dieser Parascha, dass Mosche, der Mann, durch den G’tt die Juden aus Ägypten befreit und ihnen die Tora gegeben hat, das Land Israel nicht betreten wird.
Das Volk Israel empfing die Tora auf dem Berg Sinai und wanderte 40 Jahre lang durch die Wüste. Während der gesamten Zeit diente ihnen ihr »treuer Diener« Mosche Rabbeinu. Er liebte sein Volk, er betete für das Volk, gab seine Zeit, schlichtete den Streit zwischen Tausenden von Juden. Das war sein Lebenszweck. Und nach 40 Jahren Wanderschaft teilt G’tt den Juden mit, dass nicht alle das Land Israel betreten werden. Und dass unter denjenigen, denen es verwehrt wird, auch Mosche ist. Die Tora beschreibt, wie Mosche auf diese Entscheidung reagierte: Er »schrie zum Höchsten« (5. Buch Mose 3,23), er bat G’tt, ihm sein Fehlverhalten zu verzeihen und ihn das Land betreten zu lassen. Warum also entschied G’tt, es Mosche nicht zu gestatten, und warum sehnte sich Mosche so sehr danach?
Um diese Fragen zu beantworten, müssen wir verstehen, dass das Ziel des Auszugs aus der ägyptischen Sklaverei eben genau darin bestand, das Land Israel zu betreten. Es hat einige Vorzüge, die andere Länder nicht haben können, zum Beispiel sind die in Israel angebauten Früchte spirituell heilig, und im Land Israel zu leben, wird als ein Gebot angesehen, das den Juden von G’tt gegeben wurde. Darüber hinaus hatte G’tt lange vorher versprochen, den Nachkommen von Awraham, Jizchak und Jakow Israel für immer zu geben.
Dass Mosche das Land nicht betreten durfte, war eine Belohnung dafür, dass er das Volk so gut führte
Mosche hatte also einen guten Grund für seine Bitte. Aber: »Der Mensch denkt, und G’tt lenkt.« Der treue Mosche war ein Bote und ein Prophet. In all den Jahren, die er seinem Dienst für das jüdische Volk widmete, erreichte er ein sehr hohes spirituelles Niveau. Deshalb brauchte er nach den »Berechnungen G’ttes« (Masechet Sota, Blatt 9a) das Land Israel nicht zu betreten, um spirituell noch höher zu steigen. Deshalb entschied der Ewige, dass Mosche es nicht betreten solle.
Dies ist also kein Grund für Traurigkeit, sondern das Gegenteil. Es ist eine Belohnung für seine Arbeit, die er als Führer seines Volkes geleistet hat. Er bemühte sich so sehr, dass er zu Lebzeiten eine Auszeichnung von G’tt erhalten würde. Der aber sagte: »Auch du wirst das Land Israel nicht betreten.« Damit zeichnete er ihn vor allen anderen aus und wies darauf hin, dass er für alles, was er tat, würdig gewesen wäre, das Land Israel zu betreten, aber aufgrund des Verhaltens der Generation, in der er lebte, war es nicht möglich (Bamidbar Rabba 19,13).
Und warum hat G’tt neben Mosche auch viele andere der Kinder Israels nicht ins Land ziehen lassen? Was war ihre Sünde? Die Israeliten wollten wissen, was es für ein Ort sei, an den der Ewige sie bringen würde. Und so wählten sie zwölf Kundschafter aus ihren Reihen. Sie erkundeten das Land, und als sie zurückkamen, berichteten sie dem Volk, was sie gesehen hatten.
Zwei Kundschafter, Jehoschua, der Sohn Nuns, und Kalew, der Sohn Jephunnes, sagten: »Es gibt nichts Vergleichbares wie das Land Israel. Dieses Land fließt über von Milch und Honig.« Sie hätten dort unglaublich große Früchte gesehen. Und in dem Land lägen die Gräber von Adam und Chawa, Awraham, Jizchak und Jakow mit deren Frauen. Und es lebten dort riesige Menschen wie sonst nirgendwo. Es sei wirklich ein einzigartiges Land.
Die anderen zehn Kundschafter behaupteten, das Land sei nicht für sie geeignet. Sie zählten die gleichen Dinge auf, aber mit einer anderen Botschaft. Sie sagten: »Schaut euch die Größe der Früchte an, schaut euch die riesigen Menschen an, die dort leben. Wir können dort nicht leben, es ist nichts für uns, wir können es nicht!«
Zehn Kundschafter verängstigten das Volk
Diese zehn schafften es, das gesamte jüdische Volk zu verängstigen. Sie säten Zweifel an dem besonderen versprochenen Land, das am besten für die Kinder Israels geeignet war. Daraufhin wurde G’tt auf die zehn Kundschafter und das gesamte Volk Israel wütend und sagte: »Weil ihr diese Zweifel in die Herzen des Volkes gepflanzt habt, sollt ihr als Strafe nicht in das Land einziehen. Weder ihr noch das ganze Volk, einschließlich der gesamten erwachsenen Generation, außer den beiden Kundschaftern und der jungen Generation, die das Land Israel betreten werden.« Mosche fragte G’tt: »Und warum hast Du auch mich bestraft? Womit habe ich gesündigt? Ich bitte doch nur darum, das Land Israel zu sehen.« Der Midrasch erzählt dazu ein Gleichnis.
Ein König wollte eine Frau aus seinem Land heiraten. Er versammelte seine Minister, um mit ihnen darüber zu sprechen. Alle sagten einstimmig: »Wir haben sie nicht gesehen, aber sie ist das Hässlichste, was es gibt, und jeder ekelt sich vor ihr.« In diesem Moment stand der Vertraute des Königs auf und sagte: »König, glaub ihnen nicht. Ich kenne sie auch nicht, aber ich weiß, wenn du sie willst, ist sie gut für dich.«
Die Kunde davon, dass der König alle Minister versammelt hatte, verbreitete sich im ganzen Königreich. Als die Minister dem Befehl des Königs nachkamen und zum Haus der Frau gingen, fragte ihr Vater: »Wer seid ihr, und was wollt ihr?« »Wir sind vom König gekommen, um deine Tochter zu verheiraten.« Der Vater antwortete ihnen: »Nach dem, was ihr über mein Kind gesagt habt, kommt ihr noch und wollt sie zur Hochzeit holen? Keiner von euch wird mein Haus betreten!«
Dann trat der Vertraute des Königs, der gut über die junge Frau gesprochen hatte, an den Vater heran, und dieser sagte ebenfalls zu ihm: »Auch du wirst mein Haus nicht betreten.« Der Mann antwortete: »Was habe ich damit zu tun? Ich habe, obwohl ich sie nicht gesehen habe, gesagt, dass sie das Schönste ist, was es gibt.«
Der Midrasch endet und sagt: »Nachdem der Vater gesagt hatte, dass er seine Tochter dem König nicht geben würde, warum sollte jemand noch einmal dasselbe verlangen, was just zuvor verlangt wurde? Der Vater vermutete, dass der Vertraute des Königs nicht gekommen war, um sie mit dem König zu verheiraten, sondern um seine Richtigkeit zu beweisen.«
Dieser Zweifel, den der Vater gegenüber dem Vertrauten des Königs hegte, hinderte ihn daran, ihn von den Ministern zu unterscheiden. Aus einem ganz ähnlichen Grund lässt G’tt Mosche nicht ins Land. Laut dem Midrasch wurde er mit dem ganzen Volk bestraft, weil er seine Meinung nicht klar genug von der Meinung der zehn Kundschafter abgrenzte.
Auch heute gibt es häufig Situationen, in denen die Mehrheit einer Gruppe eine andere Meinung hat als die, die moralisch die richtige wäre. Es grenzt mitunter an Heldenmut, wenn man es in einer solchen Situation schafft, sich klar abzugrenzen und mit Stärke und Klarheit die richtige Position zu vertreten.
Der Autor studiert am Rabbinerseminar zu Berlin.
inhalt
Der Wochenabschnitt Wa’etchanan beginnt mit Mosches wiederholter erneuter Bitte, doch noch das Land betreten zu dürfen. Aber auch diesmal wird sie abgelehnt. Mosche ermahnt die Israeliten, die Tora zu beachten. Erneut warnt er vor Götzendienst und nennt die Gebote der Zufluchtsstädte. Ebenso wiederholt werden die Zehn Gebote. Dann folgt das Schma Jisrael, und dem Volk wird aufgetragen, aus Liebe zu G’tt die Gebote einzuhalten und die Tora zu beachten. Den Abschluss bildet die Aufforderung, die Kanaaniter und ihre Götzen aus dem Land zu vertreiben.
5. Buch Mose 3,23 – 7,11