Der Eröffnungsvers des Wochenabschnitts Nizawim unterstreicht die Kraft der Gemeinschaft im Judentum: »Ihr alle steht heute vor dem Ewigen, eurem Gʼtt, die Anführer eurer Stämme, eure Ältesten und eure Offiziere, alle Männer Israels, eure jungen Kinder, eure Frauen und eure Bekehrten (…), damit ihr in den Bund des Ewigen eintretet (…).« Um in den Bund mit Gʼtt einzutreten, so deutet Mosche an, brauchen wir die gesamte Gemeinschaft.
Warum legt das Judentum so großen Wert auf die Gemeinschaft? Was ist so wesentlich an der Interaktion mit anderen Menschen in einem sozialen und religiösen Rahmen? In der Tat scheint das Judentum vom Aufbau einer Gemeinschaft besessen zu sein. Angefangen bei der rituellen Verpflichtung, dreimal am Tag mit neun anderen Juden zu beten, bis hin zu dem enormen Stellenwert, den die Synagoge im jüdischen Denken hat. Überall in der Halacha wird die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft und die Identifikation mit ihr gefordert.
Dies steht in krassem Gegensatz zu anderen Religionen. Fast alle anderen religiösen Systeme, vom christlichen Mönch über den buddhistischen Eremiten bis hin zum islamischen Imam sehen das Individuum als potenziell vollkommen an. Der wahrhaft spirituell erleuchtete Mensch könne in Isolation leben, ja wird sogar dazu ermutigt, um spirituelle Vollkommenheit zu erlangen.
Warum aber ist aus jüdischer Sicht der Einzelne gezwungen, sich einem Kollektiv anzuschließen, um religiöse Vollkommenheit zu erlangen? Um dies zu verstehen, müssen wir unsere Vorstellung davon, was der Wert einer Gemeinschaft ist, neu strukturieren. Worin besteht die Überlegenheit einer großen Gruppe von Menschen gegenüber dem Einzelnen? Es könnte sich um mehrere Dinge handeln. Vielleicht hat die Gruppe gemeinsam mehr intellektuelle Fähigkeiten als der Einzelne.
WERT Vielleicht hat die Gruppe mehr Lebenserfahrung und Weisheit gesammelt, auf die sie zurückgreifen kann. Der Wert des Kollektivs liegt darin, dass sich Einzelne für ein gemeinsames Ziel oder Interesse zusammenfinden, das von vielen und nicht von einer einzelnen Person erreicht wird. Da fällt mir die Geschichte von einem Mann ein, der Teil einer lebendigen Gemeinde war und viele Jahre lang den wöchentlichen Schabbatgʼttesdienst besuchte. Aber dann kam er einfach nicht mehr. Der Rabbiner erkundigte sich nach dem Grund dafür, aber alles, was er hörte, war, dass es Jack gut ging, dass er sich wohlfühlte, aber dass er einfach nicht mehr kam.Der Rabbi macht sich auf den Weg, um Jack einen Besuch abzustatten. Er kommt in das Haus des Mannes. Es ist Winter, der Mann sitzt gemütlich vor dem Kamin und liest ein Buch. Der Rabbi setzt sich neben ihn und sagt kein Wort; sie sitzen beide im Schein des warmen Feuers. Dann nimmt der Rabbi die Feuerzange, zieht eine glühende Kohle aus den Flammen und legt sie behutsam in einer abgelegenen Ecke des Kamins ab. Während der Rest des Feuers weiter loderte und knisterte, wurde das einzelne Stück Kohle von Minute zu Minute blasser, bis es schließlich von selbst erlosch.
Ohne ein Wort zu sagen, stand der Rabbiner auf, nickte seinem Gemeindemitglied zu, wünschte »Gute Nacht« und ging nach Hause. Am nächsten Schabbat kehrte der Mann in die Synagoge zurück. Eine Kohle, die vom kollektiven Feuer isoliert ist, stirbt. Jack hatte die Botschaft verstanden.
ISOLATION Was aber ist mit einem Mosche oder einem Baal Schem Tov? Würden sie in der Isolation nicht viel tiefer wachsen können als inmitten einer Masse von Menschen, die intellektuell, emotional und spirituell von einem zum Teil dramatisch niedrigeren Niveau sind? Das Judentum sagt, dass auch sie die Gemeinschaft brauchen! Der klassische Beweis dafür ist das Konzept des Minjan – die Tatsache, dass wir zehn Juden versammeln müssen, bevor wir uns Gʼtt im Gebet nähern. Warum ist das so? Wenn wir neun perfekte Zaddikim haben, können sie nicht mit dem Gebet beginnen, bis ein 13-jähriges Kind auftaucht? Selbst eine Gruppe, die aus diesen neun Personen besteht: Awraham, Jizchak, Jakow, Mosche, David, Jirmejahu, Rabbi Akiva, Raschi und Rambam – sie können nicht aus der Tora lesen und auch nicht Kaddisch sagen. Aber eine Gruppe von zehn ungebildeten jüdischen Schneidern kann es!
Das Ganze ist keine Frage der Heiligkeit. Auch der heiligste und weiseste Mensch braucht Gemeinschaft. Im Miteinander entsteht eine ganz neue Dynamik – ein neues Licht, ein Quantensprung gegenüber unserem Leben als Einzelne. Gemeinsam haben wir Wunder vollbracht und werden sie auch weiterhin vollbringen – wie in der folgenden Geschichte. Es war der kälteste Winter aller Zeiten. Viele Tiere starben wegen der Kälte. Die armen kleinen Stachelschweine, die ihre missliche Lage erkannten, schlossen sich zu Gruppen zusammen, um sich auf diese Weise zu schützen; aber die Stacheln jedes einzelnen verletzten ihre engsten Gefährten, obwohl sie Wärme abgaben, die sie gegenseitig retten sollte.
Nach einer Weile beschlossen sie, sich voneinander zu entfernen, und bald begannen sie zu sterben. Denn jedes war für sich allein … und erfror.
entscheidung Obwohl sie kleine Tiere sind, mussten die Stachelschweine eine Entscheidung über Leben und Tod treffen. Entweder sie akzeptierten die Stacheln ihrer Gefährten, oder sie verschwanden von der Erde.
Auf diese Weise lernten sie, mit den kleinen Wunden zu leben, die durch die enge Beziehung zu ihren Gefährten verursacht wurden, aber das Wichtigste daran war, dass die Wärme, die von den anderen kam, allen das Überleben ermöglichte.
Die beste Beziehung ist also nicht die, die perfekte Menschen zusammenbringt, sondern die beste ist die, in der jeder Einzelne lernt, mit den Unvollkommenheiten des anderen zu leben, und in der er die guten Eigenschaften des anderen bewundern kann. Mehr noch: In der Begegnung erfahren wir eine ganz neue Ebene des Lebens.
Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde zu Berlin.
inhalt
Im Zentrum des Wochenabschnitts Nizawim steht der Bund des Ewigen mit dem gesamten jüdischen Volk. Diesmal sind ausdrücklich auch diejenigen Israeliten miteinbezogen, die nicht anwesend sind: die künftigen Generationen. Gott versichert den Israeliten, dass Er sie nicht vergessen wird, doch sie sollen die Mizwot halten.
5. Buch Mose 29,9 – 30,20
Im Wochenabschnitt Wajelech geht es um Mosches letzte Tage. Er erreicht sein 120. Lebensjahr und bereitet die Israeliten auf seinen baldigen Tod vor. Er verkündet, dass Jehoschua sein Nachfolger sein wird. Die Parascha erwähnt eine weitere Mizwa: In jedem siebten Jahr sollen sich alle Männer, Frauen und Kinder im Tempel in Jerusalem versammeln, um aus dem Mund des Königs Passagen aus der Tora zu hören. Mosche unterrichtet die Ältesten und die Priester von der Wichtigkeit der Toralesung und warnt sie erneut vor Götzendienst.
5. Buch Mose 31, 1–30