Oft scheint es, als stieße die verfasste, die in feste Formen gefasste Religion in der heutigen Zeit mehr und mehr auf Ablehnung. Und nicht selten wird als Grund dafür die angeblich weit verbreitete religiöse Heuchelei angeführt. Dann wird erklärt, dass manche Ideen und Werte, die durch die Religion vermittelt werden sollen, ja eigentlich gar nicht so schlecht seien, wenn da nur nicht die vielen Heuchler wären, die das eine predigen und das andere tun. Aber ist das tatsächlich so? Und: Was meinen wir eigentlich, wenn wir von Heuchlern sprechen?
Was wir Juden jedenfalls nicht meinen, das ist jenes Synonym, das bereits vor rund 1.900 Jahren Eingang in unseren Sprachschatz gefunden hat und das auf einem weit verbreiteten Vorurteil beruht: das des Pharisäers. Zwar wird der Begriff bis heute als Musterbeispiel des unaufrichtigen und hinterhältigen Heuchlers verwandt. Als klassische Bezeichnung für einen selbstgefälligen und überheblichen Scheinheiligen. Das ist jedoch historisch vollkommen falsch und ursächlich auf eine Verunglimpfung der Pharisäer durch das Neue Testament und vor allem das Matthäus-Evangelium zurückzuführen.
Tatsächlich hatten die vom Judentum abgespaltenen Gründer einer anderen Religion damals und durch die Jahrhunderte vor allem eines im Sinn: das Judentum und seine Vertreter zu stigmatisieren und zu verleumden, um den eigenen Wahrheitsanspruch zu zementieren und die Nähe zum Judentum als Wiege und Ursprung des Christentums zu verleugnen.
Geld In Wirklichkeit waren die Pharisäer die Schriftgelehrten zur Zeit des Zweiten Tempels. Sie grenzten sich insbesondere von den Sadduzäern ab, die als Tempel-Aristokratie im Lauf der Zeit zusehends von Geld und Macht korrumpiert wurden, und fanden dabei die Unterstützung des einfachen Volkes.
Und während sich die Sadduzäer strikt am Wortlaut der Tora orientierten und den Tempel- und Opferdienst in den Mittelpunkt des Glaubens rückten, bestanden die Pharisäer darauf, neben der schriftlichen auch die mündliche Tora und die damit überlieferten Traditionen als verbindlich anzuerkennen. Sie gaben sich nicht mit dem reinen Wortlaut des Gesetzes zufrieden, sondern erforschten, interpretierten und diskutierten es im Licht der mündlich überlieferten Traditionen. Sie waren es, die das jüdische Gesetz auch nach der Zerstörung des Zweiten Tempels lebendig hielten, indem sie es transformierten und evolutionierten und ihm eine Geltung auch abseits des Zentralheiligtums in Jerusalem verschafften. Sie waren die Gründerväter des rabbinischen Judentums, dessen Anhänger die mündliche Tora schließlich niederschrieben und die rabbinischen Diskurse, Debatten und Diskussionen in dem Magnum Opus des Judentums, dem Talmud, zusammenfassten.
Wikipedia Aber zurück zur Ausgangsfrage: Was verstehen wir denn nun unter einem Heuchler? Wikipedia, die Internet-Enzyklopädie, umschreibt den Begriff folgendermaßen: Wesentliche Merkmale der Heuchelei seien das Vortäuschen nicht vorhandener Gefühle oder Gemütszustände sowie das Fordern von Verhaltensformen, die selbst nicht eingehalten würden. Dies werde häufig mit dem bildhaften Ausspruch illustriert: »öffentlich Wasser predigen und heimlich Wein trinken«. Heuchelei in diesem Sinn werde auch als Scheinheiligkeit oder Doppelmoral bezeichnet.
Nun bietet diese Umschreibung zwar ein relativ klares Bild – zumindest in der Theorie –, in der Praxis aber ist die Frage, ob jemand ein Heuchler ist, manchmal ungleich schwieriger zu beantworten. Denn letztlich hängt das Urteil darüber, ob jemand ein Scheinheiliger ist oder nicht, von einer ganzen Reihe unterschiedlicher Faktoren ab: Was verlangt das religiöse Gesetz von uns? Was und wer predigt die Einhaltung des Gesetzes? Gilt man schon dann als heuchlerisch, wenn man die hohen Anforderungen des Glaubens nicht mit letzter Konsequenz und in allen Fällen erfüllen kann? Und bedeutet das schließlich, dass man lieber ganz auf die Einhaltung von Vorschriften verzichten sollte, wenn man nicht in der Lage ist, alle zu jeder Zeit und in jeder Situation zu befolgen?
Mizwot Das gesetzestreue Judentum jedenfalls ist sich der Gefahr und der teils fatalen Außenwirkung bewusst, die durch Juden entsteht, die zwar äußerlich als orthodox zu erkennen sind und die in Einzelfällen, aus welchen Gründen auch immer, dem Anspruch jüdischer Gesetzgebung nicht genügen. Eben aus diesem Grund und in dem Wissen, dass der Mensch nun einmal nicht perfekt ist, gibt das orthodoxe Judentum ein System von Regeln vor, das auf Basis der 613 Ge- und Verbote das gesamte Leben, vom Aufstehen bis zum Schlafenlegen, en detail regelt.
Das mag für einen auf seinen Individualismus pochenden Menschen oft merkwürdig und als pure Einschränkung erscheinen, doch tatsächlich wurde auf diese Weise ein System geschaffen, das die Abweichung von Gesetz und Umsetzung, von Ideal und Realität, von Anspruch und Wirklichkeit auf den denkbar geringsten Wert zu reduzieren sucht. Es ist ein System, dem die Erkenntnis zugrunde liegt, dass beim Menschen der Trieb, das Animalische, das Egoistische, das persönliche Bedürfnis dominiert, sofern er nicht konsequent an seine Bestimmung in dieser Welt und seine Verpflichtung gegenüber G’tt und seinen Mitmenschen erinnert wird.
Der Charakter eines Menschen wird nicht in den wenigen großen Momenten des Lebens geformt, sondern durch die unzähligen Abläufe und Herausforderungen, mit denen wir Tag für Tag konfrontiert sind. In diesen Situationen bildet sich unsere Identität heraus, verfeinert sich unser Charakter, gilt es, Integrität zu beweisen. Und eben das ist der Grund, weshalb gerade die vielen alltäglichen Abläufe im Judentum so peinlich genau geregelt werden. Sei es die Frage, welcher Schuh zuerst angezogen wird oder was und wie gegessen werden darf. Seien es Fragen der Geschäftsethik oder des zwischenmenschlichen Umgangs. Seien es Fragen des Kleidungsstils oder des sexuellen Verkehrs. Seien es Fragen eines ethischen Lebensstils oder des Verhältnisses zu G’tt.
Und wenn man nun doch nicht in der Lage ist, all den gesetzlichen Vorgaben zu genügen, obwohl man als Jude erkennbar ist, sich also für alle sichtbar mit der jüdischen Religion und deren Vorschriften, Idealen und Werten identifiziert. Ist man dann gleich ein Heuchler?
Standards Sicher nicht, denn das Judentum setzt extrem hohe Standards. Wir wissen, dass wir fehlbar sind. Wir wissen, dass wir nicht perfekt sind. Wir wissen auch, dass das Leben nicht nur aus Extremen besteht. Nicht nur aus Schwarz oder Weiß. Es gilt hier kein »Alles-oder-Nichts-Prinzip«.
Ein Jude ist stets auf dem Weg. Manche stehen noch am Anfang und manche sind schon weit fortgeschritten, doch ankommen werden wir nie. Das Leben ist aus jüdischer Sicht eine stetige Weiterentwicklung. Wir sind ständig aufgefordert, unser Handeln mit unseren Idealen in Einklang zu bringen, unsere Integrität durch nach außen sichtbare Handlungen zu dokumentieren. Unseren Charakter zu trainieren und zu perfektionieren und durch unser Handeln eine positive Veränderung der Außenwelt und unserer Mitmenschen zu erzielen.
Im übrigen gibt es heute, soweit ich weiß, niemanden, der uns im Sinne anderer Religionen stets und ständig zur Einhaltung unserer Gebote anhält. Früher übernahmen diese Aufgabe die Propheten, die versuchten, das Volk Israel auf den Weg der Tora zurückzubringen, und die die Einhaltung der Gebote einforderten. Doch ein Äquivalent, das diese Tradition nach dem Ende der Ära der Propheten in gleichem Maße fortgesetzt hätte, ist mir nicht bekannt.
Nun gibt es dennoch Fälle, in denen jüdische Menschen als Heuchler oder Scheinheilige wahrgenommen werden. In denen ihr Auftreten, ihr Kleidungsstil, ihr Anspruch nicht mit ihrem Verhalten in Einklang zu bringen ist. Ist das nun per se zu verurteilen? Und würden wir uns das Judentum nicht frei von Heuchlern wünschen? Ja und nein. Sicher wäre es eine hehre Vorstellung, wenn alle sich in jeder Lebenssituation gesetzeskonform verhalten könnten und würden. Doch das ist angesichts menschlicher Unvollkommenheit nun mal unrealistisch. Aber immerhin macht das Judentum durch seine Gesetze, seine Ideale und seine Verhaltensnormen unmissverständlich klar, was es von seinen Anhängern fordert. Und was wäre denn überhaupt die Alternative?
Systeme Sicher gibt es Gesellschaftssysteme, deren moralisch-ethische Standards und Verhaltensanforderungen so niedrig sind oder erst gar nicht existieren, dass Heuchelei praktisch nicht mehr vorkommt. In denen man nicht mehr in der Lage ist, das Verhalten der Menschen an bestimmten Richtlinien zu beurteilen, weil es diese verbindlichen Richtlinien nicht mehr gibt. Aber ist das tatsächlich eine erstrebenswerte Alternative? Wollen wir wirklich in einem System leben, dessen Anforderungen an seine Mitglieder so niedrig sind, dass Heuchelei gar nicht mehr möglich erscheint? Ich jedenfalls nicht.
Dann nehme ich doch lieber das Judentum – mit seinen extrem hohen Standards. Standards, die bei konsequenter Befolgung zu einer gerechten und verantwortungsbewussten Gesellschaft führen. Zu einer Welt, in der Gleichberechtigung, Mitmenschlichkeit und Frieden herrschen. Bin ich nun ein Heuchler, weil ich nicht in der Lage bin, alle Gebote einzuhalten, die das Judentum bereithält, obwohl ich in Zeitungen gelegentlich darüber schreibe? Das müssen andere entscheiden. Ich jedenfalls sehe mich auf einem ganz guten Weg. Und der ist ja bekanntermaßen auch das Ziel.
Der Autor ist Geschäftsführer des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Hessen.