Talmudisches

Nissan oder Tischri?

Foto: Getty Images/iStockphoto

Die Tora bezeichnet den Monat Nissan als ersten Monat des Jahres. Dazu heißt es: »Dieser Monat sei euch der wichtigste der Monate; der erste sei er euch unter den Monaten des Jahres« (2. Buch Mose 12,3). Gleichzeitig feiern wir den Neujahrsbeginn im Herbst, denn am 1. Tischri ist Rosch Haschana. Wann ist nun der Beginn des neuen Jahres?

Der Talmud (Rosch Haschana 10b/11a) beschreibt folgende Meinungsverschiedenheit. »Rabbi Eliezer sagte: ›Im Tischri ist die Welt erschaffen worden, im Tischri wurden die Erzväter geboren, und im Tischri starben sie. An Pessach wurde Jizchak geboren, an Rosch Haschana wurden Sara, Rachel und Channa schwanger, an Rosch Haschana verließ Josef das Gefängnis, an Rosch Haschana hörten unsere Väter in Ägypten auf zu arbeiten, und im Nissan (an Pessach) verließen sie Ägypten – im Tischri werden wir künftig vom Maschiach erlöst werden.‹

Rabbi Jehuda sagte: ›Im Nissan ist die Welt erschaffen worden, im Nissan wurden die Erzväter geboren, und im Nissan starben sie. An Pessach wurde Jizchak geboren, an Rosch Haschana wurden Sara, Rachel und Channa schwanger, an Rosch Haschana verließ Josef das Gefängnis, an Rosch Haschana hörten unsere Väter in Ägypten auf zu arbeiten, und im Nissan (an Pessach) verließen sie Ägypten – im Nissan werden wir künftig vom Maschiach erlöst werden.‹«

Die Rabbiner sind sich uneins darin, ob der 1. Nissan oder der 1. Tischri der wahre Moment der Schöpfung ist. Ausgehend davon besteht auch ein Widerspruch darin, wann die biblischen Erzväter geboren und gestorben sind und wann der Messias kommen wird. Laut dem großen Rabbiner Jitzchak Luria (1534–1572) besteht kein Widerspruch zwischen den beiden Meinungen. Beide beschreiben dieselbe Situation aus Perspektiven: Rabbi Eliezer konzentriert sich auf den spirituellen Aspekt der Schöpfung, während Rabbi Jehuda den irdischen fokussiert.

Ob man den 1. Tischri oder den 1. Nissan als Moment der Schöpfung sieht, ist wie die Frage, ob man den Moment der Zeugung oder den der Geburt eines Menschen als Geburtstag bezeichnen sollte.

Während Rosch Haschana, der 1. Tischri, für das »Gezeugtwerden« der Welt steht, steht der 1. Nissan für die tatsächliche Geburt der Welt. Denn als Gʼtt die Schöpfung durch seine Worte erschuf, erschuf er (aus mystischer Perspektive) zunächst die Idee der Welt, den geistigen Funken der Welt, diese Idee materialisierte sich allmählich, bis sie die aktuelle physische Form erreichte. Wann beginnt also das Leben? In dem Moment, da der Gedanke des Lebens beginnt, oder erst, wenn dieser materialisiert wird? Das ist die große Diskussion zwischen Rabbi Eliezer und Rabbi Jehuda.

Wenn wir diese Erklärung im Kopf behalten, können wir in der unglaublich genauen Wortwahl der Tora und unserer Weisen neue Tiefe erkennen. Was bedeutet »Rosch Haschana« übersetzt? Wörtlich bedeutet es »Kopf des Jahres«. Der Kopf ist der Ort, an dem die Gedanken entstehen, noch bevor sie sich materialisieren. Im Mussafgebet an Rosch Haschana sprechen wir: »Heute wurde die Welt gezeugt. Heute stehen alle Schöpfungen der Welt vor Gericht.«

Man achte auf die Wortwahl: »gezeugt«. Es geht um ein geistiges Zeugen, nicht um die Geburt! Die Rabbiner weisen darauf hin, dass die Buchstaben des ersten Wortes der Tora (Bereschit) auch die Wörter »Alef be Tischri« (der 1. Tischri) ergeben. Im ersten Vers der Tora geht es also um den Beginn der geistigen Schöpfung. Der gesamte Vers liest sich: »Im Anfang (Bere­schit) von Gʼttes Schöpfung des Himmels und der Erde« (1. Buch Mose 1,1). Man achte wieder auf die Wortwahl: erst der Himmel, dann die Erde.

Nach dem Ende der Schöpfungsgeschichte wird allerdings wiederholt: »Dies ist die Entstehungsgeschichte des Himmels und der Erde, da sie erschaffen wurden am Tag, da Gʼtt, der Ewige, Erde und Himmel gemacht hatte« (1. Buch Mose 2,4). Erschaffen wurde zuerst der Himmel (das Geistige, die Idee der Erde) – 1. Tischri –, doch an dem Tag, als die Erde »gemacht« war – 1. Nissan –, finden wir das Wort Erde (das Physische) vor dem Himmel.

Ki Tissa

Aus Liebe zum Volk

Warum Mosche die Bundestafeln nach dem Tanz der Israeliten um das Goldene Kalb zerbrach

von Rabbiner Salomon Almekias-Siegl  14.03.2025

Talmudisches

Der Turm in der Luft

Die Weisen der Antike diskutierten anhand eines besonderen Schranks über rituelle Reinheit

von Vyacheslav Dobrovych  14.03.2025

Purim

Doppelter Feminismus

Waschti und Esther verkörpern zwei sehr unterschiedliche Strategien des Widerstands gegen die männliche Dominanz

von Helene Braun  13.03.2025

Megilla

Wegweiser in der Fremde

Aus der Purimgeschichte leitete ein mittelalterlicher Rabbiner Prinzipien für das jüdische Überleben in der Diaspora ab, die erst in der Moderne wiederentdeckt wurden

von Rabbiner Igor Mendel Itkin  13.03.2025

Militärseelsorge

Militärrabbiner Ederberg: Offenes Ohr für Soldaten im Norden

Arbeit bei der Bundeswehr sei Dienst an der Gesellschaft insgesamt, den er als Rabbiner gerne tue, sagt Ederberg

 11.03.2025

Fest

Mehr als Kostüme und laute Rasseln: Purim startet am Donnerstagabend

Gefeiert wird die Rettung der Juden vor der Vernichtung durch die Perser

von Leticia Witte  11.03.2025

Tezawe

Kleider, die die Seele formen

Was es mit den prächtigen Gewändern der Hohepriester auf sich hat

von Rabbiner Jaron Engelmayer  07.03.2025

Talmudisches

Heilen am Schabbat

Was unsere Weisen über Notfälle und Pikuach Nefesch lehren

von Rabbinerin Yael Deusel  07.03.2025

Meinung

Übersehene Prophetinnen

Zum Weltfrauentag fordert die Rabbinatsstudentin Helene Braun mehr Sichtbarkeit für jüdische Vorreiterinnen

von Helene Braun  06.03.2025