Zusammenhalt

Niemanden alleinlassen

Platz ist in der kleinsten Hütte: An Sukkot trifft sich nicht nur die Familie, sondern auch Gäste sind willkommen und erwünscht. Foto: Flash 90

Himmlische Kreaturen sind bei uns zu Sukkot, dem Laubhüttenfest, eingeladen. Es sind Uschpisin, ganz besondere Gäste aus den Reihen unserer Vorväter und Gestalter des Volkes Israel, die uns laut der Tradition an jedem der sieben Tage des Festes besuchen kommen. Zugleich stehen sie symbolisch für die Bedeutung, auch real existierende Gäste aus der Gegenwart in die Sukka einzuladen.

Die Einladung der Uschpisin hat ihren Ursprung im Sohar (Emor 103b) und verbreitete sich mit der Popularität der Kabbala. Aber der Gedanke, menschliche Gäste, insbesondere Bedürftige, zu Sukkot zu sich einzuladen, findet sich bereits in der Tora: »Freue dich an deinem Fest (Laubhüttenfest), du, dein Sohn, deine Tochter …, der Fremde, der Waise und die Witwe, die in deinen Toren verweilen« (5. Buch Mose 16,14).

Die Freude ist erst dann eine erhabene und wahrhafte, wenn sie mit anderen geteilt wird.

Maimonides, der Rambam, führt dazu aus, dass, wenn man das Haus verschließt und nur mit der eigenen Familie feiert, die Freude an den Feiertagen nicht der entspricht, von der in der Tora die Rede ist. Es handelt sich dann nicht um eine erhebende und heilige Freude, sondern um die bloße »Freude des Magens«, also eine sehr niedrige und vergängliche Form der Freude (Hilchot Schewitat Jom Tow 6,18).

Ernte Die Freude ist erst dann eine erhabene und wahrhafte, wenn sie mit anderen geteilt wird, insbesondere den Marginalisierten der Gesellschaft. Diese hätten ansonsten keine Möglichkeit der Teilhabe, weil sie keine eigene Ernte einfahren. Hier kommen die himmlischen Gäste ins Spiel und erheben die Gastfreundlichkeit des Festes in den Himmel.

Solche himmlischen Erscheinungen sind im Talmud keine Unbekannten. So heißt es, dass dem Vorvater Awraham und seinem Neffen Lot die Engel erschienen waren (1. Buch Mose 18–19), Jakow focht in der Nacht mit einem Engel (dort 32, 24–33), und Manoachs Frau kündigte ein Engel die Geburt des Sohnes Schimschon (Samson) an (Richter, Kapitel 13), oder aber der Prophet Elijahu erschien verschiedenen Gelehrten, wovon wiederum der Talmud berichtet.

In genau dieser Tradition sieht der Sohar den himmlischen Besuch unserer Vorväter, also von Awraham, Jizchak, Jakow, Josef, Mosche, Aharon und David in den Laubhütten. Jeder Einzelne von ihnen steht für eine besondere heilige Eigenschaft und eine kabbalistische Dimension der G’ttesoffenbarung – all dies bringen sie im Rahmen ihrer spirituellen Präsenz mit in die Sukka.

Verbindung Der Schelah Hakadosch, Rabbi Jesaja Horowitz, bringt die himmlischen Gäste in einen direkten Zusammenhang mit den physischen (Traktat Sukka 8): »Zuerst lade man die Höheren Gerechten explizit ein … danach gebe man den Bedürftigen rund um den Tisch ihren Anteil.« Welche Verbindung ergibt sich aus dieser offensichtlich betonten Parallele?

Der Sefat Emet, Rabbi Yehuda Arye Leib Alter, sieht darin etwas ganz Profundes. So gebe es in Wirklichkeit zwei Kreise von Gästen in der Laubhütte: Der erste ist das jüdische Volk, das aufgrund des g’ttlichen Befehls in die Sukka einkehrt. Es wird quasi vom obersten Gastgeber, dem Schöpfer selbst, in die Laubhütte eingeladen. Auf diese Weise soll daran erinnert werden, dass Er es gewesen war, der sich während der Wanderung durch die Wüste um den Schutz vor Feinden, Hitze und Kälte gekümmert hatte.

Durch diese ganz besondere Form der Protektion des jüdischen Volkes durch G’tt werden die Gäste selbst zu Gastgebern erhoben und laden nun ihrerseits Gäste ein, und zwar die sieben Uschpisin. Genau das ist der zweite Kreis von Gästebewirtung. Auf diese Weise ändert sich auch das Verhältnis zwischen Gästen von Grund auf. Denn manche der Eingeladenen, vor allem die Marginalisierten, könnten dabei Scham empfinden, Güte zu erfahren und Gnade zu erhalten, was wiederum die Freude eintrüben würde.

Wenn Gastgeber sich jedoch selbst als Gäste fühlen, weil sie gleichzeitig erleben, dass man Anteil an einer höheren Gnade hat, die mit allen anderen Anwesenden geteilt wird, dann können sich letztendlich alle aus ganzem Herzen gemeinsam freuen. Damit wird die Freude des Festes vollkommen: »… und du sollst nur fröhlich sein!« (5. Buch Mose 16,15)

Ernte Die frisch eingefahrene Ernte ist ein weiterer Grund, Sukkot zu feiern. »Ein Fest der Laubhütten mache dir sieben Tage, wenn du von den Tennen (die Ernte) und von den Keltern (den Wein) eingeholt hast. Und freue dich an deinem Fest« (5. Buch Mose 16,13). Die Freude über die Güte G’ttes soll dann, gleichberechtigt und mit strahlenden Gesichtern, vom gesamten Volk Israel geteilt werden.

All das vermitteln, so Rabbi Yehuda Arye Leib Alter, die »Oberen Gäste«, die Uschpisin. Darüber hinaus bewegen sich die Nachkommen in ihren Fußstapfen. So bezeichnete sich Awraham selbst als »Fremden und Einwohner« unter der Bevölkerung des Landes (1. Buch Mose 23,4). Die Vorväter und -mütter wandelten gleichfalls wie fremde Mitbewohner auf Erden, und zwar auf himmlischen Pfaden, wo sie ewige Spuren hinterließen. Und indem ihre Nachkommen sich in provisorische Behausungen – »Dirat araj« – in Form von Laubhütten begeben, wandeln auch sie auf ihren Wegen, erhalten ihre himmlische Unterstützung sowie Kraft und nehmen ihr verborgenes Licht auf.

Von Awraham konnte man lernen, alles hinter sich zu lassen, um G’ttes Worten zu folgen. Also taten wir es ihm gleich, als wir aus Ägypten zogen, um G’tt in die Wüste zu folgen, vom Propheten Jirmijahu höchst gepriesen (2,2). Von Jizchak erhalten wir die G’ttesfurcht, wie an Jom Kippur – eine der Voraussetzungen für eine reine Freude zu Sukkot. Jakow war der Erste, der selbst Laubhütten errichtete (1. Buch Mose 33,17) und darin um sich die Kinder Israels versammelte.

nachkommen Die Laubhütte sollte zudem Platz für jeden seiner Nachkommen bieten. Das Wort »Sukkot« ist in der Tora an manchen Stellen ohne den eigentlich notwendigen Buchstaben »Waw« geschrieben und kann somit auch als »Sukkat«, Singular von »Sukkot«, gelesen werden. Deshalb kann der Vers: »Alle Einwohner Israels sollen in Laubhütten wohnen« (3. Buch Mose 23,42) auch anders gelesen werden, und zwar: »… sollen in einer Laubhütte wohnen«, was bedeuten würde, dass alle zusammen in einer einzigen Laubhütte unterkommen würden. Das ist natürlich nur dann möglich, wenn es sich dabei um eine besonders lange und breite Sukka handelt (Talmud, Sukka 27b).

Zudem sammelte – wie zur Zeit des Laubhüttenfestes – Josef das Getreide der sieben fetten Jahre und sicherte so die Ernährung und das Überleben nicht nur seiner Brüder, sondern aller Bewohner der umliegenden Länder. Dabei war er sich stets bewusst, dass seine Begabungen, die ihn in diese Position brachten, ausschließlich von G’tt kamen (1. Buch Mose 41,16).

Die Laubhütte sollte jedem Nachkommen Awrahams Platz und Schutz bieten.

Mosche dagegen lehrt uns die Bescheidenheit, die einem Leben in der Laubhütte zugrunde liegt. Sie ist zugleich die Quelle unserer Freude auf Wesentlicheres als das rein materielle Vergnügen, worunter wir das Erleben von Gemeinschaftsgefühl, von himmlischer Güte sowie von spirituellem Beisammensein und gegenseitiger Wertschätzung verstehen.

Vorbild Dank der Verdienste Aharons war das Volk Israel in der Wüste von den schützenden g’ttlichen Wolken umgeben – auch daran sollen die Laubhütten erinnern. Weil er sich stets um Frieden bemühte und dafür einsetzte, bitten wir in unseren Gebeten jeden Freitagabend, dass G’tt über uns die »Sukkat Schalom« – die Hütte des Friedens – ausbreiten möge.

König David schließlich steht, so Rabbi Yehuda Arye Leib Alter, als Vorbild für einen Baal Teschuwa, einen Büßer, der zu seiner Sünde ohne Wenn und Aber steht und für sie die volle Verantwortung in Reue übernimmt, obwohl er als König Oberhaupt des Volkes war und eigentlich »nur« G’tt gegenüber Rechenschaft ablegen musste. Sein Weg zeigt, dass alles repariert werden kann. Er bereitete den Weg für den Bau des Tempels, sorgte für die Einheit des Volkes Israel rund um das spirituelle Zentrum in Jerusalem. So fügen wir dem Tischgebet in den Tagen von Sukkot hinzu: »Erbarmungsvoller, möge Er die Sukkat David – die gefallene Hütte Davids – wiedererrichten.«

Auf diese Weise lassen wir uns von den Uschpisin inspirieren, ihr Besuch verleiht jedem der Laubhüttentage einen ganz besonderen Charakter. In Deutschland ist es wie überall in Europa nicht einfach, eine Laubhütte selbst zu errichten. Vielerorts werden deshalb Gemeinde-Sukkot aufgebaut und zur Verfügung gestellt, sodass jeder, der möchte, auch in einer Sukka essen kann.

Umso wichtiger ist es, Gäste einzuladen, um gerade diejenigen, die keine eigene Sukka haben, an diesem besonderen Gebot teilhaben zu lassen. Nicht immer verspricht das, gemütlich und behaglich zu werden, vor allem dann, wenn der Platz begrenzt ist oder das Wetter unbeständig zu werden droht – bei Regen darf ja unter Dach gegessen werden. Aber eines soll und wird es stets dabei geben: die Wärme des Zusammenseins und des gemeinsamen Feierns.

Der Autor ist Oberrabbiner der Israelitischen Kultusgemeinde Wien.

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