Der Zentralrat der Juden in Deutschland hat die katholische Kirche aufgefordert, mehr zur Aufklärung ihrer Rolle in der Zeit des Nationalsozialismus beizutragen. Bis heute blieben viele Fragen zum Wirken von Papst Pius XII. (1876–1958) offen, dies werfe einen dunklen Schatten auf das jüdisch-christliche Verhältnis, sagte Zentralratspräsident Josef Schuster am Montag nach einer vom Zentralrat und der katholischen Deutschen Bischofskonferenz gemeinsam verbreiteten Erklärung anlässlich einer Podiumsdiskussion unter dem Leitwort »Neues über Pius XII. und die Schoa?« in Frankfurt am Main.
Im März sollen auf Anweisung von Papst Franziskus die Archivbestände aus dem Pontifikat von Papst Pius XII. für Wissenschaftler zugänglich gemacht werden. Das damalige Oberhaupt der katholischen Kirche ist bis heute wegen seiner Haltung zum Holocaust umstritten. Anhänger und Kritiker von Pius erhoffen sich aus den Dokumenten weitere Klärung hinsichtlich seiner Haltung zum nationalsozialistischen Deutschland und zur Judenvernichtung.
»Wie erklärt sich das große Schweigen der katholischen Kirche zum Massenmord an den Juden während der Schoa?«, fragte Josef Schuster.
»Rattenlinien« »Wie erklärt sich das große Schweigen der katholischen Kirche zum Massenmord an den Juden während der Schoa? Welche Rolle spielte der Papst bei der Rettung der römischen Juden? Und inwieweit unterstützte das kirchliche Oberhaupt NS-Täter nach dem Krieg bei ihrer Flucht über die sogenannten Rattenlinien?«, fragte Schuster laut Pressemitteilung.
Durch die Öffnung der vatikanischen Archive erhoffe er sich mehr Klarheit: »Die katholische Kirche sollte neue Erkenntnisse zum Anlass nehmen, sich deutlich zu ihrer Verantwortung zu bekennen.«
Der Erfurter Bischof Ulrich Neymeyr, Vorsitzender der Unterkommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum der Bischofskonferenz, sagte anlässlich der Podiumsdiskussion, er sei froh, wenn die Archive Pius XII. geöffnet würden. In der fast 20-jährigen Amtszeit von Pius XII. sei sehr viel Archivmaterial angefallen.
Korrespondenz Neymeyr stellte fest: »Auch die Korrespondenzen mit den Nuntiaturen und die Akten der Kongregationen könnten wichtiges Material enthalten zur Frage des Umgangs des Heiligen Stuhls mit dem NS-Regime, besonders bezüglich der Verfolgung und unvorstellbaren Ermordung der Juden, aber auch zur Frage, ob und wie 1945 Vertretern des NS-Regimes zur Flucht verholfen wurde und wie der Vatikan sein Verhältnis zum Staat Israel gestaltete.«
»Ein Grundsatz der Geschichtsforschung heißt: Man muss die Menschen immer aus ihrer Zeit heraus verstehen«, sagte Bischof Neymeyr.
Er hoffe, dass nach der Sichtung des Archivmaterials genügend Zeit und finanzielle Mittel zur Aufarbeitung zur Verfügung stünden, »um die Geschichte korrekt schreiben zu können. Ein Grundsatz der Geschichtsforschung heißt: Man muss die Menschen immer aus ihrer Zeit heraus verstehen und darf sie nicht im Nachhinein beurteilen, wenn man weiß, wie die Dinge sich entwickelt haben«, so Bischof Neymeyr.
Übereinstimmend betonten Schuster und Neymeyr, dass die Podiumsdiskussion am Montag auch ein Zeichen für die veränderten Beziehungen zwischen Kirche und Judentum sei. Es sei zu hoffen, dass die katholisch-jüdische Zusammenarbeit sich auch in der historischen Erforschung der vatikanischen Archive fortsetze.
Kirchenhistoriker Wesentlich an der Aufarbeitung der Archivbestände in Rom beteiligt ist Hubert Wolf, Kirchenhistoriker an der Universität Münster. »Überblickt man die bisherigen Forschungen, wird deutlich, dass die Konzentration auf das Verhalten des Papstes während der Schoa dazu geführt hat, dass weitere brisante Fragen nicht ausreichend bearbeitet wurden. Zu nennen sind etwa die sogenannte ›Rattenlinie‹, die Situation in Palästina und die Gründung des Staates Israel, womit die Frage nach grundsätzlichen theologischen Reflexionen zum Verhältnis von Christentum und Judentum eng zusammenhängt«, sagte Wolf.
Übereinstimmend betonten Schuster und Neymeyr, die Podiumsdiskussion sei auch ein Zeichen für die veränderten Beziehungen zwischen Kirche und Judentum.
Er warnte jedoch »vor vorschnellen Urteilen und sensationellen Meldungen. Allen Skeptikern, die von der Öffnung der Archive Pius’ XII. nichts Neues erwarten, rufe ich in Erinnerung, wie viel Neues die Apertura der Bestände Pius’ XI. allen Unkenrufen zum Trotz gebracht hat«.
Johannes Heil, Universitätsprofessor an der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg, hob die widersprüchlichen Urteile über Pius XII. hervor und stellte dessen Verhalten in die Tradition päpstlicher Judenpolitik. »Die Öffnung der vatikanischen Archive ist ein großer Fortschritt. Die Erträge werden keine Diskussion beenden, aber auf eine fundiertere Basis stellen.« ja/epd