Kurzgeschichte

Neila in der Hölle

»In der Hölle zurückgeblieben sind nur die vor Schreck erstarrten Teufel und der Vorbeter selbst«. Foto: Thinkstock

An einem ganz gewöhnlichen Tage, es war weder Jahrmarkt noch Wochenmarkt, hörten die Marktleute plötzlich Pferdegetrabe und sahen in der Ferne den Straßenkot aufspritzen. Bald zeigte sich auch eine Kutsche mit einem Pferde. Wer kann da gefahren kommen? Doch als die Kutsche auf dem Marktplatze anlangte, wandten sich alle Leute voller Abscheu, Angst und Zorn weg: In der Kutsche saß der Polizeispitzel aus der Nachbarstadt, der wohl direkt in die Hölle fuhr. Wer weiß, wen er diesmal bei den Behörden verpfeifen wird!

Plötzlich wird es still, die Leute schauen unwillkürlich hin: Die Kutsche ist stehengeblieben, das Pferd hat den Kopf gesenkt und säuft aus einer Pfütze, und der Polizeispitzel ist von seinem Sitz heruntergefallen und liegt unbeweglich da.

Es ist ja immerhin eine Menschenseele! Die Leute laufen hinzu: Der Mann ist tot. Der Feldscher bestätigt: »Der ist erledigt!« Angestellte der Beerdigungsbrüderschaft nehmen sich der Leiche an. Pferd und Wagen werden verkauft, und mit dem Erlös werden die Beerdigungskosten bestritten.

teuflische bürokratie Kaum ist er beerdigt, als die Teufel seine Seele packen, sie nach der Hölle schleppen und dort dem Torbeamten übergeben. Der Polizeispitzel wird für eine Weile beim Höllentor aufgehalten, und der Beamte, der die Bücher und Eingänge und Ausgänge führt, nimmt gelangweilt und gähnend seine Personalien auf und trägt alles mit träger Hand in sein Buch ein.

Und der Polizeispitzel, dessen ganzer Einfluss in der Hölle nichts mehr wert ist, gibt Antwort: Da und da geboren, da und da geheiratet, soundso lange sich vom Schwiegervater aushalten lassen, dann von Frau und Kindern entlaufen, in die und die Stadt verzogen und den Beruf eines Polizeispitzels ergriffen, von dem er auch so lange lebte, bis sein Maß voll wurde. Er starb plötzlich auf der Durchreise, auf dem Marktplatze der Stadt Lahadam.

Da wird der Höllenbeamte, der die Bücher führt, plötzlich interessiert. Er hält mitten im Gähnen an und fragt: »Wie heißt die Stadt? La – ha - -«.»Lahadam!«, wiederholt der Polizeispitzel. Der Matrikelführer wird plötzlich rot, und seine Augen drücken höchstes Erstaunen aus. »Habt ihr mal von einer solchen Stadt gehört?«, wendet er sich an seine Gehilfen. Die Gehilfen zucken die Achseln, schütteln die Köpfe und strecken die Zungen aus: »Nein, noch nie!« »Gibt’s überhaupt eine solche Stadt?«

Jede Gemeinde hat in der Hölle ihr eigenes Buch. Die Bücher sind alphabetisch geordnet, und jeder Buchstabe hat einen eigenen Schrank. Man nimmt also alle Bücher mit L durch: Lublin, Lemberg, Leipzig; alle Städte sind da, doch keine Stadt Lahadam!

»Und doch gibt es eine solche Stadt!«, sagt der Polizeispitzel. »Eine Stadt in Polen.« »Ist sie vielleicht ganz neu gegründet?« »Nein, sie steht schon an die 20 Jahre da. Der Gutsbesitzer hat sie erbaut und zwei Jahrmärkte eingesetzt. Es gibt da eine Schule, ein Bethaus, ein Bad …, zwei heimliche Branntweinschenken …« »Ist hier schon einmal wer aus Lahadam gewesen?«, fragt der Matrikelführer noch einmal seine Gehilfen. »Nein, niemand!« antworten sie.

»Sterben denn dort die Leute gar nicht?«, fragt man den Polizeispitzel. »Warum sollen sie nicht sterben?«, antwortet er nach Judenart mit einer Frage. »Die Leute wohnen in kleinen, dumpfen Zimmern, das Bad ist so gebaut, dass man darin nicht atmen kann, das ganze Städtchen steht auf einem Sumpf!« Der Polizeispitzel fällt allmählich in seinen gewohnten Polizeispitzelton. »Auch einen Friedhof gibt es dort. Die Beerdigungsbrüderschaft schindet furchtbar hohe Gebühren. Erst vor Kurzem gab es da eine Seuche.«

goldene stimme Man schickt den Polizeispitzel in die entsprechende Abteilung der Hölle und fragt wegen des Städtchens Lahadam an höherer Stelle an; da muß etwas nicht in Ordnung sein: Die Stadt steht seit 20 Jahren da; es hat dort sogar schon eine Seuche gegeben, und doch – kein einziger Toter von dort!

Die höhere Stelle schickt Boten hinauf, um der Sache nachzugehen: Es stimmt! Und es verhält sich so: Es ist ein Städtchen wie jedes andere, mit wenig gottgefälligen Werken und sehr viel Sünden. Der böse Trieb arbeitet dort sogar recht energisch. Also, wo ist der Haken? Nun, sie haben eben in ihrer Gemeinde einen ganz ungewöhnlichen Vorbeter!

Das heißt, der Vorbeter ist als Mensch durchaus gewöhnlich und unbedeutend, doch er hat eine Stimme, eine so süße, so himmlische Stimme, dass, wenn er singt, selbst die verstocktesten eisernen Herzen weich wie Wachs werden. Kaum steht er am Vorbeterpult, als die ganze Gemeinde ihre Sünden bereut und so aufrichtig Buße tut, dass oben alle Sünden vergeben und aus den Registern gestrichen werden. Und die Tore des Paradieses stehen allen Einwohnern von Lahadam weit offen. Wenn einer kommt und sagt: »Ich bin aus Lahadam«, so wird er gar nicht mehr weiter gefragt.

Die ganze Geschichte passt der Hölle selbstverständlich gar nicht, und Satan selbst nimmt die Sache in die Hand. Er wird mit dem Vorbeter schon fertig werden! Was tut er? Er schickt auf die Erde hinauf und lässt sich einen lebenden kalikutischen Hahn mit rotem Kamm holen. Man bringt ihm bald den Hahn und stellt ihn vor ihn auf den Tisch. Der Hahn ist so erschrocken, daß er sich gar nicht rührt, und der Satan – verflucht sei sein Name! –setzt sich vor ihn hin, fängt ihn zu kraulen an und starrt so lange und unverwandt auf seinen roten Kamm, bis dieser weiß wie Kalk wird. Wie der Satan fühlt, dass der Allmächtige oben in höchsten Zorn geraten ist, ruft er aus: »Soll er seine süße Stimme verlieren bis zu seiner Sterbestunde!«

heiserkeit Wen er bei dieser Beschwörung meinte, wisst ihr selbst; und ehe noch der Kamm des kalikutischen Hahns wieder rot geworden war, hatte schon der Vorbeter von Lahadam seine Stimme verloren. Seine Kehle ist wie geschlagen; er kann kaum noch sprechen. Wer am Unglück die Schuld hat, weiß man schon; das heißt, einige Wunderrabbis wissen es. Wer hat aber den Mut, dem Vorbeter so etwas zu sagen? Es ist doch sowieso nichts mehr zu machen! Wenn der Vorbeter als Mensch noch irgendwie hervorragend wäre, so könnte man vielleicht durch Fürbitte im Himmel etwas erreichen. Aber er war eben ein durchaus unbedeutender Mensch, eine Null …

Der Vorbeter reist von einem Wunderrabbi zum andern, doch keiner kann ihm etwas sagen. Nun kommt er zum Rabbi von Opatow und gibt ihm keine Ruhe: Er wird nicht fortgehen, bis er die Wahrheit erfahren hat. Es ist ein Jammer mit dem Menschen! Und der Rabbi versucht, ihn zu trösten: »Wisse, dass deine Heiserkeit nur bis zu deiner Sterbestunde anhalten wird. Dein Sterbegebet wirst du aber schon mit einer so klaren Stimme sprechen können, dass man es in allen Himmeln hören wird!«

»Und bis dahin?« »Bis dahin ist die Sache hoffnungslos!« Der Vorbeter bestürmt noch einmal den Rabbi: »Wie ist das geschehen? Warum ist mir das geschehen?« Und er plagt den Rabbi so lange, bis dieser ihm alles erzählt.

»Wenn so«, schreit der Vorbeter mit heiserer Stimme auf, »so werde ich mich schon rächen!« Und mit diesen Worten läuft er hinaus. »Wie willst du dich rächen? Und an wem?«, ruft ihm der Rabbi nach. Doch der Mann ist schon fort.

Das geschah an einem Dienstag; andere sagen an einem Mittwoch. Und als am Donnerstag abend die Fischer von Opatow Fische zum Sabbat fangen wollten und ihr Netz herauszogen, so war das Netz auffallend schwer; und wie man es herauszog, lag darin der Vorbeter von Lahadam. Er hatte sich von der Brücke ins Wasser gestürzt. Und wie er das Sterbegebet sprechen sollte, hatte er seine schöne Stimme, wie es ihm der Rabbi ganz richtig vorausgesagt hatte, wiederbekommen; denn der Satan hatte ausdrücklich bestimmt: »Bis zur Sterbestunde!« Doch als er ins Wasser sprang und sich ertränkte, hat er das Sterbegebet gar nicht gesprochen, sondern seine Stimme für später aufgehoben. Und das war seine Rache, wie ihr es gleich sehen werdet.

Wie es einem Selbstmörder geziemt, wird der Vorbeter sofort von den Teufeln gepackt und in die Hölle geschleppt. Beim Tore wird er wie üblich ausgefragt, aber er gibt keine Antwort. Man versucht, ihn mit einer glühenden Gabel zum Sprechen zu bringen, doch er schweigt.

»Nehmt ihn so!« Man weiß doch auch so, wer er ist: Man hatte ihn ja erwartet! Und man nimmt ihn »so« und führt ihn zu einem Kessel, der für ihn gerade heißgemacht wird: sobald das Pech zu sieden anfängt, wird man ihn hineinwerfen. Doch der Vorbeter setzt sich plötzlich den Daumen an die Gurgel und beginnt den Kaddisch aus der Neila. Er singt, und seine Stimme klingt immer mächtiger und noch süßer, noch herzergreifender als je. Und in den Kesseln, aus denen bisher ein Winseln und Jammern drang, wird es plötzlich still. Dann fallen Stimmen ins Gebet ein, verbrühte Köpfe heben die Deckel von den Kesseln, und versengte Lippen singen mit.

paradies Die Teufel, die bei den Kesseln stehen, beten nicht mit: Sie sind vor Schreck wie gelähmt. Sie stehen – der eine mit einer Tracht Brennholz zum Nachlegen, der andere mit einem Schürhaken, der dritte mit einer eisernen Gabel in der Hand, mit aufgerissenen Mäulern, ausgestreckten Zungen, runden Augen und verzerrten Gesichtern und rühren sich nicht; andre sind vor Schreck umgefallen. Während der Vorbeter in der Neila fortfährt, geht das Feuer unter den Kesseln allmählich aus, und die Toten kommen einer nach dem anderen heraus.

Er singt, und die ganze Gemeinde betet voller Inbrunst mit; und während sie beten, verheilen die Brandwunden und überziehen sich mit neuer Haut, verbrannte Glieder wachsen nach, und alle Leiber sind wie geläutert. Und wie der Vorbeter zur Stelle kommt: »Gesegnet seiest du, Herr, der du die Toten lebendig machst!« – werden alle Toten wirklich lebendig, nehmen die Gestalt an, die sie vorher hatten, und rufen wie ein Mensch »Amen!« Und bei der Stelle: »Sein großer Name werde gepriesen in alle Ewigkeit!« klingt es so laut, dass alle Himmel sich auftun und das Bußgebet der Sünder bis in den siebenten Himmel hinaufsteigt, bis zum Throne der Göttlichen Majestät. Und es ist gerade eine Stunde der Gnade, und alle Sünder, die nicht mehr Sünder sind, bekommen plötzlich Flügel und fliegen empor und finden die Tore des Paradieses weit geöffnet.

In der Hölle zurückgeblieben sind nur die vor Schreck erstarrten Teufel und der Vorbeter selbst. Wie bei Lebzeiten hatte er durch seine Stimme alle Herzen erweicht und zur Buße bekehrt, doch selbst nicht ordentlich Buße getan. Zudem war er ja auch ein Selbstmörder!

Mit der Zeit hat sich die Hölle wieder gefüllt. Ich hörte sogar, dass man dort jetzt einen Erweiterungsbau aufführt.

Jizchok Leib Perez wurde 1852 im polnischen Zamosc geboren. Er studierte Jura und arbeitete zunächst als Anwalt. Nachdem ihm wegen seines politischen Engagements in der jüdischen Arbeiterbewegung die Zulassung entzogen wurde, verlegte er sich auf die Literatur. Mit zahlreichen Romanen, Theaterstücken, Erzählungen und Essays wurde er zum seinerzeit bekanntesten jiddischen Schriftsteller in Polen. Jizchok Leib Perez starb 1915 im Alter von 64 Jahren. Zu seiner Beerdigung in Warschau kamen mehr als 100.000 Menschen.

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