Der Talmud (Chullin 7a) erzählt von einem ähnlichen Wunder wie der Spaltung des Schilfmeers. Der für seine Frömmigkeit bekannte Tannait Rabbi Pinchas Ben Jair, der Ende des zweiten Jahrhunderts im Land Israel lebte, wird in diesem Text sogar mit Mosche Rabbenu verglichen!
»Einst ging Rabbi Pinchas Ben Jair zu einer Gefangenenauslösung. Unterwegs gelangte er an den Fluss Ginaj. Da sprach er: ›Ginaj, teile mir dein Wasser, damit ich dich durchschreiten kann!‹ Der Fluss erwiderte: ›Du gehst, um den Willen deines Schöpfers zu erfüllen, und ich fließe, um den Willen meines Schöpfers zu erfüllen. Bei dir ist es zweifelhaft, ob du deine Absicht wirst realisieren können, ich aber vollbringe den Willen meines Schöpfers ganz sicher.‹ Da sagte Rabbi Pinchas Ben Jair: ›Wenn du dich jetzt nicht teilst, verhänge ich über dich, dass nie mehr Wasser durch dich fließen wird.‹«
Wie ist es möglich, dass der Ginaj spricht? Ein Fluss rauscht, doch er argumentiert nicht.
Tossafot Die Tossafot zu unserer Stelle behandeln dieses Problem und schlagen zwei Lösungen vor. Ihre erste Antwort lautet: Vielleicht war es der Engel der Gewässer, der zu Rabbi Pinchas Ben Jair sprach.
Die zweite Antwort des Kommentars dürfte Rationalisten eher gefallen. Der talmudische Text schildert Rabbi Pinchas Ben Jairs inneren Monolog: »So hätte der Fluss erwidert, wenn er mit mir diskutieren könnte.«
Rabbiner Isadore Twersky (1930–1997) bemerkte allerdings einmal, dass die Argumentation des Flusses auf den ersten Blick überzeugend ist. Wieso hat Rabbi Pinchas Ben Jair seine demnach unberechtigte Bitte nicht zurückgezogen?
Naturgesetz Um das Verhalten des frommen Mannes zu rechtfertigen, hat Twersky die Überlegungen des Tannaiten wie folgt ergänzt: Nach dem Religionsgesetz muss ein Jude sogar dann den Schabbat entweihen, wenn auch nur die Möglichkeit einer Lebensrettung besteht. Ebenso muss das Naturgesetz weichen, wenn auch nur die Möglichkeit einer Rettung besteht. Rabbi Pinchas Ben Jair war unterwegs, um das Gebot der Auslösung von Gefangenen zu erfüllen, und hielt daher seine Bitte um ein Wunder für durchaus berechtigt.
Kehren wir nun zur talmudischen Erzählung zurück. Wie reagierte der Fluss auf die schreckliche Drohung des Tannaiten? Der Fluss teilte sich, und Rabbi Pinchas Ben Jair konnte hindurchschreiten. Die Geschichte hätte hier enden können, doch sie geht weiter.
»Mit ihm war ein Mann, der Weizen für das Pessachfest bei sich hatte. Rabbi Pinchas Ben Jair sprach: ›Teile dich auch für ihn, denn er ist mit der Erfüllung einer Mizwa beschäftigt.‹ Da teilte sich der Ginaj. In ihrer Begleitung befand sich außerdem ein arabischer Händler. Deshalb sprach Rabbi Pinchas Ben Jair zu dem Fluss: ›Teile dich auch für diesen Mann, damit man nicht sage: So behandeln sie einen Reisegefährten!‹ Und der Ginaj teilte sich.«
wunder Wir erkennen, dass das Wunder, das die Auslösung von Gefangenen ermöglicht, aus gegebenem Anlass zweimal erweitert wurde.
Aus der hier angeführten Wundergeschichte zog der Talmud einen erstaunlichen Schluss. »Rabbi Josef sprach: ›Um wie viel bedeutender als Mosche mit seinen 60 Myriaden ist dieser Mann! Da (am Schilfmeer) geschah es einmal, bei diesem aber dreimal! Vielleicht geschah es auch bei diesem nur einmal? Vielmehr gleicht Rabbi Pinchas Ben Jair Mosche mit seinen 60 Myriaden.‹«
Es ist wichtig zu begreifen, dass Rabbi Pinchas Ben Jair kein Zauberer war. Kein Mensch vermag Naturgesetze außer Kraft zu setzen; nur der Ewige kann Wunder bewirken. Wohl aber kann ein wahrer Zaddik Gott um ein bestimmtes Wunder bitten, und dann geht sein Wunsch in Erfüllung.
Im Midrasch (Bamidbar Rabba 14,4) heißt es: »Wenn Zaddikim anordnen, erfüllt der Ewige ihre Worte.«