Natascha ist Ukrainerin. Sie lebt in Kiew zusammen mit ihrem Mann. Gleich in der Nachbarschaft wohnen ihre Schwiegereltern, und auch der Bruder ihres Mannes mit seiner Frau. Natascha ist Ingenieurin, sie hat eine gute Stelle in einer großen Fabrik in Kiew, wo auch ihr Mann arbeitet. An den Abenden sitzen sie gerne mit der Familie zusammen; Natascha mag ihre Schwiegereltern sehr gerne, und auch mit dem Schwager und der Schwägerin versteht sie sich gut.
Zum 60. Geburtstag von Nataschas Schwiegervater feiert die Familie ein großes Fest; es wird gegessen, getrunken, gesungen und gelacht. Die ganze Nachbarschaft ist da und auch viele Freunde. Schließlich fangen die Älteren unter den Gästen an, von früher zu erzählen, von ihren eigenen Eltern und von den Großeltern.
Und Nataschas Schwiegermutter beginnt sich zu erinnern, erzählt aus der Geschichte ihrer Familie, erzählt von deren Traditionen und Gebräuchen, die sie von ihren Großeltern her kennt, die aber schon ihre Eltern nicht mehr gepflegt hatten, in jener Zeit, noch gar nicht lange her, als die Ukraine noch ein Teil der großen, mächtigen Sowjetunion war.
Judentum Es ist Natascha fremd, was ihre Schwiegermutter da erzählt; und dabei hat sie doch gedacht, sie kenne die Familie ihres Mannes gut. Sicher, sie hat gewusst, dass ihr Mann Jude ist, wie seine Eltern auch, und sein Bruder, der mit einer Ukrainerin verheiratet ist, die – wie Natascha – vom Judentum nichts weiß. Außer, dass es einem mächtige Scherereien bereiten kann, wenn die staatlichen Organe davon erfahren. Besser also, man erwähnt es erst gar nicht.
Die Schwiegermutter erzählt und erzählt, lächelnd zuerst, dann wehmütig, fast sehnsüchtig. Und dann – ist es der Wodka? – erinnern sich manche der Gäste mit ihr an ihre eigene Familie und was die Alten erzählten von den Zeiten vor der großen Revolution. Und mit einem Mal ist die Rede von denen, die ausgereist sind, nach Israel oder nach Deutschland. »Kontingentflüchtlinge« nennt man sie.
Als Natascha später darüber nachdenkt, ist sie sicher: Damals, am Abend der Geburtstagsfeier, ist der Plan geboren worden, den ihre Schwiegereltern nun verfolgen: Sie haben die Ausreise nach Deutschland beantragt. Natascha ist nicht sehr interessiert an der Angelegenheit. Ausreisen: die reinste Utopie, und weshalb auch? Hier haben sie doch ihr Auskommen, ihren Beruf, ihre Wohnung und Nataschas eigene Familie, die eine völlig andere Geschichte hat.
Aber ihr Mann redet ihr zu: Was für eine Chance – in den Westen auszureisen! Da sind doch einige Dinge, die hier in der Ukraine nicht zum Besten stehen. Und schließlich ist es nicht mehr als recht und billig, wenn man jetzt – einmal im Leben! – einen Vorteil davon haben soll, dass man ein Evrej ist. »Denk doch mal nach, Natascha, bin ich nicht mehrfach bei der Beförderung übergangen worden, weil in meinen Papieren unter ›Nationalität‹ steht, dass ich Jude bin?«
Ausreise Natascha ist nicht begeistert, aber sie ist auch nicht sonderlich besorgt; schließlich kann sich das Verfahren noch viele Jahre hinziehen, und vielleicht überlegen sich die Schwiegereltern das inzwischen noch einmal. Und dann – die Überraschung: Der Ausreiseantrag wird genehmigt; die Familie wird nach Deutschland ausreisen. Die Schwiegereltern, der Schwager mit seiner Frau, und natürlich auch Natascha mit ihrem Mann. Schon beginnt die Familie mit den Vorbereitungen; kaum kommt Natascha zum Nachdenken.
Der Tag der Ausreise steht bereits fest, da geschieht das Unfassbare. Nataschas Schwiegervater wollte einem Freund ein Möbelstück bringen, das er ihm versprochen hat, wo er doch jetzt seinen Haushalt für die Ausreise auflöst. Seine beiden Söhne helfen ihm beim Transport. Auf der Heimfahrt übersieht der Fahrer eines Lastzugs das Auto, in dem die Männer unterwegs sind. Alle drei verlieren ihr Leben bei diesem schrecklichen Unfall. Die drei Frauen bleiben alleine zurück. Der Schock sitzt tief; und doch – das Leben muss weitergehen – sitzt die Familie bereits auf gepackten Koffern.
Was soll geschehen? Nataschas Schwiegermutter wird gehen; sie ist fest entschlossen. Ihren Schwiegertöchtern rät sie, dazubleiben, in der Ukraine. Denn sie weiß, wie schwer es beiden fällt, sich von ihrer Vergangenheit zu trennen, um in eine ungewisse Zukunft zu gehen: aus einer gesicherten Existenz in der vertrauten Heimat in ein Land, von dem sie nicht viel mehr wissen als das, was man ihnen erzählt hat, und dessen Sprache sie nicht einmal sprechen.
Treue Die beiden Schwiegertöchter wollen davon nichts wissen. Sie wollen ihre Schwiegermutter nicht verlassen; so viele Jahre haben sie miteinander gelebt und haben sich immer gut verstanden. Aber die Schwiegermutter lässt nicht nach: »Mädchen, ihr seid noch jung – heiratet wieder, gründet eine neue Familie, habt Kinder.«
Schließlich beschließt Nataschas Schwägerin, diesem Rat zu folgen. Mit ihrem Mann wäre sie ausgereist, aber allein? Eine Schwiegermutter, und sei sie noch eine so liebenswerte Frau, ersetzt keine Familie, kein Heimatland. Aber Natascha sieht das anders: Ja, ihrem Mann zuliebe wäre sie ausgereist; und jetzt erst recht – soll denn ihre Schwiegermutter, die sich all die Jahre so um sie kümmerte, die sie so lieb gewonnen hat, jetzt allein in die Fremde gehen?
Natascha lässt die Einwände ihrer Schwiegermutter nicht gelten, sie wird mit ihr gehen. Ist sie denn nicht die Einzige, die von deren ganzer Familie übriggeblieben ist? Wenn sie nicht mitgeht, wer soll sich sonst um die Frau kümmern? Sie ist nicht mehr jung, und einer muss doch für sie da sein!
Beide kommen nach Deutschland. Wie hatten sie sich wohl die Ankunft, den Start ins neue Leben vorgestellt? Zunächst leben beide Frauen zusammen im Übergangswohnheim, dann wird ihnen eine winzige Wohnung zugewiesen; und dabei hatten doch beide schöne Wohnungen gehabt, und vor allem ihre eigene Küche. Ein bitterer Start, doch sie haben die Hoffnung: Alles wird bald besser werden – bald, wenn sie erst Arbeit gefunden haben.
Grundsicherung Aber die Schwiegermutter ist 56 Jahre alt, niemand wird sie einstellen. Grundsicherung heißt der Betrag, der monatlich für sie zur Verfügung steht, zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel. Natascha, ja, sie ist jung, gut ausgebildet. Sicherlich wird sie bald Arbeit finden, glaubt sie. Natascha hat studiert; sie ist Ingenieurin. Die Arbeit, die man ihr zuweist, hat mit ihrem Beruf aber nichts zu tun: Sie wird eingestellt als Erntehelferin, zum Erdbeerpflücken und zum Spargelstechen. Eine harte Arbeit für reichlich wenig Geld. Aber Natascha erledigt die Arbeit klaglos; das Geld, das sie verdient, steuert sie für den gemeinsamen Haushalt bei.
Ihre Schwiegermutter hat sich inzwischen darauf besonnen, warum sie eigentlich ausgereist ist. Regelmäßig besucht sie die jüdische Gemeinde an ihrem neuen Wohnort. Aber Natascha geht nicht dorthin. Sie hat ja keinerlei Bezug zum Judentum. Es befremdet sie sogar, dass die Schwiegermutter jüdische Symbole, sogar ein jüdisches Gebetbuch, in die Wohnung bringt.
Tradition Der älteren Frau ist es schließlich ein Bedürfnis, ihre Schwiegertochter Natascha, die sich so liebevoll um sie kümmert, teilhaben zu lassen am Judentum, an den alten Traditionen und – ja – auch an der Religion, zu der sie selbst sich allmählich mehr und mehr hingezogen fühlt, und die ihr Kraft gibt. Sie bittet Natascha, sie doch einmal – »Nur dieses Mal!« – in die Gemeinde zu begleiten. Schließlich gibt Natascha nach. Wenn es der Schwiegermutter doch so viel bedeutet.
Es ist ein Feiertag. Schawuot nennen sie dieses Fest. Natascha sieht viele Leute in der Synagoge, die wie sie selber Migranten sind; manche kennt sie vom Schlangestehen im Arbeitsamt, andere von den Besuchen beim Sozialamt. Sie staunt, wie viele es sind, die – wie sie – Russisch sprechen, hier in der Synagoge. Trotzdem fühlt sie sich fremd und unsicher. Nun beginnt der Vorbeter, etwas vorzulesen, das Buch Ruth.
Und plötzlich ist Natascha hellwach: Diese Geschichte, die da vorgelesen wird, das ist doch – das ist doch fast so wie ihre eigene Geschichte. Gespannt hört sie zu, sie will wissen, wie die Geschichte ausgeht. Es ist eine Happy-End-Geschichte, diese Geschichte von Ruth. Die Geschichte von einer Frau, die ihren Weg macht in einer fremden Gesellschaft, in einer fremden Religion, und die ihr Glück dabei findet.
Angekommen Ob auch Natascha ihr Glück finden wird? Wir wissen es nicht; die Geschichte ist ja noch nicht zu Ende. Aber was auch werden wird: Natascha kann sicher sein, dass ihr die Tür zur jüdischen Gemeinde immer offen stehen wird. Und dass sie dort Menschen finden wird, von denen manche einen ähnlichen Weg gegangen sind wie sie selbst, und von denen auch etliche inzwischen im Judentum »angekommen« sind, eine neue geistige Heimat gefunden haben.
Wer weiß, vielleicht wird auch Natascha sich dem Glauben und der Tradition anschließen und sich darin noch fester verbinden mit dem jüdischen Teil ihrer Familie – und auch selbst darin Fuß fassen und eine neue Heimat finden? Sie wird willkommen sein. Und wir, die jüdische Gemeinde, wollen sie willkommen heißen in unserer Mitte.
Die Autorin ist Rabbinerin der Israelitischen Kultusgemeinde Bamberg »Or Chajim«.