Eine Anekdote berichtet von einer Begegnung zwischen Napoleon und einer Gruppe von Landjuden. Als der Feldherr einmal in ein Dorf kam, sah er eine kleine Synagoge, die so alt aussah, als würde das Gebäude gleich zusammenfallen. Darin saßen Juden auf dem Boden und weinten. Napoleon fragte sie, was geschehen sei.
Die Juden antworteten, sie trauerten um den zerstörten Tempel. Der Franzose wollte wissen, wann der Tempel denn zerstört worden sei. Sie sagten: vor ungefähr 2000 Jahren. Napoleon schaute ungläubig – und fragte: Wie kann es sein, dass ihr heute wegen eines Ereignisses trauert, das vor fast 2000 Jahren geschah? Doch dann dachte er nach und fügte hinzu, dass nur ein Volk, das nach so langer Zeit in dieser Form über die Vergangenheit trauern könne, auch in Zukunft in der Lage sei, schwere Zeiten durchzustehen.
generation Unsere heutige Generation ist eigentlich nicht mehr in der Lage, so zu trauern, als hätten wir die Tempelzerstörung selbst miterlebt. Unsere Weisen jedoch gaben uns durch Verpflichtungen, Regeln und Symbole einen angemessenen Rahmen, um sich Jahr für Jahr von Neuem mit dieser Trauer auseinandersetzen zu können.
Die neun Tage von Beginn des Monats Aw bis zum 9. Aw, also Tischa beAw, nennt man »Tischat ha Jamim«. Sie sind eine Vorbereitungsphase für den 9. Aw. In diesen Tagen gibt es bereits verschiedene Einschränkungen: Man verzichtet auf den Verzehr von Fleisch, macht keine Musik und rasiert sich nicht. Die Woche, in die Tischa beAw fällt, kann man als verstärkte Trauerphase bezeichnen, und Tischa beAw ist dann der Höhepunkt der Trauer.
Das Fasten an Tischa beAw dauert einen Tag, von Sonnenuntergang bis zum nächsten Sonnenuntergang. Vor dem Fasten nimmt man die Seuda Mafseket, das Abschlussmahl, zu sich. Man isst bevorzugt hart gekochte Eier, ein Symbol der Trauer, aber auch des Lebenskreises. Vereinzelt werden die Eier vor dem Verzehr in Asche getaucht, zur Erinnerung an die Tempelzerstörung. Bei dieser Mahlzeit wird auf Gourmetkost natürlich verzichtet.
bequemlichkeit Verboten an Tischa beAw sind außer Essen und Trinken auch der Geschlechtsverkehr und das Tragen von Schuhen mit Ledersohlen, denn solche Schuhe konnten sich früher nur Wohlhabende leisten, und am Trauertag muss jede Art von Bequemlichkeit unterbunden werden. Man erneuert an diesem Tag nichts, man trägt auch keine neue Kleidung, geschweige denn kauft sie. An diesem Tag wird auch keine Tora gelernt, denn Toralernen erfreut die Menschen und erhellt Herz und Seele – deshalb ist es am Trauertag untersagt.
In der Synagoge wird die Rolle Ejcha, die vom Propheten Jeremias geschrieben wurde, gelesen. Er war ein Zeitgenosse der ersten Tempelzerstörung und ging danach mit in die erste Diaspora. Es werden auch die Kinot, also Klagelieder, gelesen – üblicherweise, während man auf dem Boden sitzt.
Alle diese uns auferlegten Regeln sollen uns dazu bringen, zu verinnerlichen, was damals passierte. Können wir die Trauer aber wirklich emotional nachvollziehen? Im Buch Ha Todaa (»Das Bewusstsein«), von Rabbi Elijahu Kitov steht, dass der Mensch Sinn und Ziel dieses Tages verfehlt hat, wenn er nur fastet, aber nicht in der Lage ist, seelische Bilanz zu ziehen. Das Fasten an sich steht nur an zweiter Stelle – es soll uns aufrütteln und sensibilisieren.
Im Talmud steht geschrieben, dass die Tempelzerstörungen nur deshalb geschehen konnten, weil unter den Juden selbst »Sinat chinam« herrschte, was übersetzt »grundloser Hass« bedeutet. Auch heute hat unsere Geschichte an Aktualität nichts verloren. Wir müssen uns mit ihr auseinandersetzen, aus ihr lernen und nach dem Warum fragen. Denn unser Ziel muss es sein, dem grundlosen Hass nicht noch einmal zu verfallen.
richtung Auf der gesamten Welt richten sich Juden zum Gebet nach Israel aus. In Israel wiederum gen Jerusalem und in Jerusalem selbst in Richtung des Tempels. Heute ist die Kotel unser Fixpunkt. Nicht nur wir Menschen richten uns so aus, sondern auch unsere Synagogen folgen der Regel. Eine Synagoge heißt auch »Mikdasch meat« – ein wenig Tempel. Bemerkenswert ist, dass alle Gebete, die den Menschen mit G’tt verbinden, über eine gedankliche Verknüpfung mit dem Tempel verlaufen.
Der Unterschied zwischen der Diaspora und Israel ist, dass dort Geschichte physisch spürbar ist. In Israel ist es Brauch, an Tischa beAw zur Kotel zu gehen. Eine besondere Atmosphäre ist dort am Fastentag spürbar. Tausende Menschen sitzen klagend, weinend und betend im Kerzenlicht auf dem Vorplatz der Kotel und betrauern den Verlust des Tempels. Der französische Feldherr Napoleon hat es begriffen: Ein Volk, das die Vergangenheit dermaßen intensiv beklagen und ihren Verlust nachvollziehen kann, ist auch in der Lage, den Herausforderungen der Zukunft ins Auge zu sehen – und mögen sie noch so unerfreulich sein.