Ressentiments

Nach Seinem Bilde

Alle Menschen sind dem Allmächtigen lieb, unabhängig von ihrer Hautfarbe. Foto: Getty Images

Im biblischen Schöpfungsbericht lesen wir, dass alle Tiere als Paar geschaffen wurden – außer dem Menschen, der zuerst als singuläres Lebewesen geschaffen wurde und erst danach zu einem Paar wurde. Dies scheint das Konzept zu betonen, dass Mann und Frau sich gegenseitig ergänzen, »und sie werden wie ein Fleisch sein« (1. Buch Mose 2,24).

Wert Die Mischna im Traktat Sanhedrin (4,5) verdeutlicht jedoch, dass der Mensch einzeln erschaffen wurde, um den unendlichen Wert eines jeden Menschen zu lehren: dass nämlich jeder Mensch einzigartig ist und dass alle Menschen gleich sind.

Diese Ideen basieren auf der biblischen Lehre, dass jeder Mensch nach dem Bild G’ttes geschaffen ist (1. Buch Mose 1,27). Dadurch ist klar, dass Vorurteile und Ressentiments anderen gegenüber aufgrund dessen, wie sie erschaffen wurden, tatsächlich mit dem Judentum nicht vereinbar sind.

Das Judentum fordert ausdrücklich die Sorge um die Benachteiligten und Ausgegrenzten.

Bezüglich jener Vorurteile, die sich auf die Hautfarbe eines Menschen beziehen, haben wir erst kürzlich den klassischen Abschnitt der Tora gelesen, wo es um die Kritik geht, der sich Mosche von seinen Geschwistern Mirjam und Aharon ausgesetzt sah, weil er eine kuschitische Frau geheiratet hatte (4. Buch Mose 12,1). Als Anstifterin dieser Beanstandung erhält Mirjam die g’ttliche Strafe: »Und siehe, Mirjam war wie Schnee aussätzig geworden« (12,10).

Kusch ist der biblische Name für Äthiopien (vgl. Buch Esther 1,1) und steht allgemein synonym für dunkelhäutige Menschen (vgl. auch Jirmejahu 13,23).

Die talmudischen Weisen interpretieren das Wort Kusch jedoch mitunter auch anders, und so weist der berühmte Kommentator Raschi darauf hin, dass es tatsächlich eine Bezeichnung für Schönheit ist, und dementsprechend gibt es unterschiedliche Erklärungen dafür, was genau Mirjam und Aharon an ihrem Bruder Mosche in Bezug auf seine Frau Zippora kritisierten.

Mittelalterliche Kommentatoren hingegen wie Ibn Esra und der Raschbam, Rabbenu Schmuel ben Meir, verstehen den Begriff »Kuschitisch« im eigentlichen Sinne in Bezug auf die Farbe der Haut.

Rav Josef Ibn Caspi stellt außerdem klar, dass Mirjam und Aharon ihren Bruder Mosche kritisierten, weil er eine schwarze Frau geheiratet hatte. Dies schien für sie offenbar unter seiner Würde.

Die Tora betont explizit das g’ttliche Missfallen über derartiges Gedankengut und Gerede, und die Bestrafung durch Zara’at (»schneeweiß«), Aussatz, ist besonders passend. Uns wird zu verstehen gegeben, dass negative Vorurteile gegen Menschen wegen ihrer Hautfarbe nicht nur den Schöpfer beleidigen, sondern dass eine helle Hautfarbe im Gegenzug keinesfalls als zwingend vorteilhaft anzusehen ist.

AUSERWÄHLT Die eindeutige Tatsache, dass rassistisches Gedankengut eine Antithese zu den Lehren der Tora ist, hat Juden jedoch nicht davor bewahrt, diesem zu erliegen – nicht zuletzt auch durch ein fehlgeleitetes und vollkommen falsches Verständnis des Begriffs des »Auserwählt­seins«.

Der Prophet Amos begegnete im 8. Jahrhundert v.d.Z. solchen Tendenzen unter den Israeliten im nördlichen Königreich. Sie glaubten, allein aufgrund ihrer Geburt privilegiert zu sein, unabhängig davon, wie sie sich verhielten.

Amos hebt nicht nur die g’ttliche Forderung nach Gerechtigkeit hervor, sondern tadelt die Israeliten noch mit den folgenden Worten im Namen des Schöpfers: »Ihr Kinder Israels seid für mich genauso wie die Kinder der Kuschiter (Äthiopier). Habe ich nicht nur Israel aus dem Land Ägypten herausgenommen, sondern auch die Philister aus Kaftor und Aram aus Kir?« (Amos 9,7).

Mit anderen Worten: Alle Menschen sind dem Allmächtigen lieb, unabhängig von ihrer Hautfarbe. Und die g’ttliche Befreiung und Erlösung ist nicht nur in der jüdischen Geschichte, sondern auch bei anderen Völkern zu finden!

Der Prophet Amos macht deutlich, dass vom jüdischen Volk gerade zum Zweck der Auserwählung ein vorbildliches moralisches Verhalten gefordert wird. Und so lesen wir im 5. Buch Mose 7,7, dass mit g’ttlicher Auserwählung keinerlei Vorteil verbunden ist, sondern es ganz im Gegenteil vielmehr darum geht, »ein Volk von Priestern und eine heilige Nation zu sein« (2. Buch Mose 19,7).

Der Prophet Jeschajahu hebt wiederholt hervor, der Zweck der jüdischen nationalen Existenz sei, die g’ttliche Gegenwart in der Welt zu bezeugen (43,9) und ein moralisches Licht für die Menschheit zu sein (42,6). Arroganz und Rassismus verraten genau dieses Ziel und den damit verbundenen hohen Anspruch.

GÖTZENDIENST Von Anfang an betrachtete das Judentum Götzendienst und alles, was damit einhergeht, als ultimative Quelle ritueller und moralischer Verunreinigung. Der Tanach ist voll von Verweisen auf diesen Konflikt, der in den Kriegen gegen die Hellenisten und die Römer wieder auftauchte. In Bezug auf diesen elementaren Konflikt zwischen Gut und Böse wurden die heidnischen Nationen der Welt durch und durch negativ bewertet.

Dies hat jedoch nichts mit rassistischen Ideen zu tun, denn das Judentum preist nicht nur den wahren Proselyten, sondern auch alle rechtschaffenen Nichtjuden, die dementsprechend »ihren Anteil an der kommenden Welt haben« (Maimonides Jad, Hilchot Teschuwa 3,6).

Das Judentum fordert ganz besonders und ausdrücklich die Sorge um die Ausgegrenzten und Verfolgten, insbesondere dann, wenn deren Benachteiligung daraus resultiert, wie sie geschaffen wurden.

Der Midrasch (Bereschit Rabba 75,1) zitiert Rabbi Pinchas, der erklärt, dass wir fünf Episoden im Buch der Psalmen finden, in denen König David G’tt auffordert, aufzustehen (um ihm zu helfen und seine Feinde zu zerstreuen).

Doch G’tt antwortete ihm: »David, Mein Sohn, egal wie oft du Mich aufforderst aufzustehen, Ich werde es nicht tun.« »Aber wann werde ich sehr wohl aufstehen?« »Wenn du erkennst, wie die Armen geplündert werden und die Bedürftigen stöhnen, wie es geschrieben steht: ›Für die Plünderung der Armen und das Stöhnen der Bedürftigen werde ich jetzt aufstehen, sagt der Herr‹ (Psalm 12,6).«

In diesem beeindruckenden Midrasch wird uns gesagt, dass selbst König David nicht annehmen kann, dass G’tt auf seiner Seite ist – es sei denn, er ist selbst auch auf der Seite G’ttes.

Und wann sind wir auf G’ttes Seite? Wenn auch wir aufstehen, um die Bedürftigen und Verfolgten zu verteidigen!

VORURTEILE Obwohl Juden – vor allem religiöse Juden – völlig frei von jeglichen rassistischen Vorurteilen sein sollten, ist es doch eine Tatsache, dass negative soziologische Faktoren und Einstellungen auch innerhalb der jüdischen Gemeinden zu finden sind, insbesondere, wenn diese selbst zurückgezogen und von der allgemeinen Gesellschaft isoliert leben.

Andererseits hat gerade die Integration in die Mehrheitsgesellschaft manchmal dazu geführt, dass derartige negative Einstellungen auch die jüdische Gemeinschaft beeinflussen.

Gerade in den Vereinigten Staaten haben sich das lange Erbe des Rassismus und seine soziologischen und wirtschaftlichen Folgen häufig negativ auf andere Gesellschaftsschichten ausgewirkt, einschließlich bestimmter Teile der jüdischen Gemeinschaft, was zu einer negativen Einstellung gegenüber farbigen Menschen geführt hat.

Verschiedene religiöse jüdische Organi­sationen haben Erklärungen veröffentlicht, in denen sie rassistische Vorurteile verurteilen. Im Oktober 2015 gab der orthodoxe Rabbinical Council of America (RCA) eine Erklärung gegen Rassismus heraus, die weit über Aussagen zur universellen Würde der Menschheit und das jüdische Erbe des Mitgefühls für die Verfolgten hinausging. Man erkannte sogar an, dass »das jahrhundertealte amerikanische Problem des weißen Rassismus gegen Afroamerikaner weiterhin eine schändliche, explosive zeitgenössische Realität ist, sowohl in offenen als auch latenten Formen«.

Wir müssen uns dem stellen, dass es auch unter Juden rassistische Einstellungen gibt.

Die Tatsache, dass solche Einstellungen unter Juden überhaupt einen Platz finden konnten, ist zutiefst beschämend, aber wir dürfen es nicht leugnen, sondern müssen uns dem stellen.

Alle, die unser religiöses moralisches Erbe schätzen, haben eine besondere Verantwortung, rassistische Ressentiments zu benennen, wo auch immer sie einem begegnen, aber vor allem innerhalb der eigenen Gemeinschaft.

Die jüngsten weltweiten Proteste gegen rassistisches Verhalten müssen die jüdische Gemeinschaft dazu motivieren, künftig noch sichtbarer an der Spitze des Kampfes gegen Rassismus zu stehen. Das schulden wir unserer eigenen historischen Erfahrung als Opfer von Fanatismus und Rassismus, unserem eigenen Erbe und vor allem dem Herrn der Schöpfung, der jeden Menschen im g’ttlichen Bild mit unantastbarer Würde geschaffen hat.

Der Autor ist internationaler Direktor für interreligiöse Angelegenheiten des American Jewish Committee (AJC). Von 1979 bis 1985 war er Oberrabbiner von Irland.

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