Mehrmals spricht die Tora in der Schöpfungsgeschichte von der Gottebenbildlichkeit (hebräisch: Zelem Elokim) des Menschen: »Und Gott sprach: Lasst uns einen Menschen machen in unserem Bild nach unserer Ähnlichkeit (…). Und Gott schuf den Menschen in seinem Bild, im Bild Gottes schuf er ihn; als Mann und Frau schuf er sie« (1. Buch Mose 1, 26–27).
Der Talmud überliefert Bemerkungen von Rabbi Akiwa über Zelem Elokim: »Er pflegte zu sagen: Bevorzugt ist der Mensch, dass er im Ebenbild Gottes erschaffen wurde. Ein größerer Vorzug ist es, dass ihm kundgetan wurde, er sei im Ebenbild Gottes geschaffen, denn es ist gesagt (1. Buch Mose 9,6): ›denn im Ebenbild Gottes hat er den Menschen geschaffen‹« (Sprüche der Väter 3,18).
Der berühmte Tannait geht in der soeben zitierten Mischna auf eine zentrale Frage der philosophischen Anthropologie ein. Die besondere Stellung des Menschen im Vergleich zu den anderen Lebewesen sieht Rabbi Akiwa in seiner Gottebenbildlichkeit. Zelem Elokim besitzen nur die Menschen – das zeichnet sie aus.
Vorzug Eine Erhöhung dieses Vorzugs erkennt Rabbi Akiwa in der Tatsache, dass den Menschen ihre Gottebenbildlichkeit mitgeteilt wurde. Auch ohne das Bewusstsein seiner Gottebenbildlichkeit hätte der Mensch leben und in der Welt wirken können, aber das Wissen um seine besondere Position eröffnet ihm neue Perspektiven: Er gewinnt einen Blick auf vielfältige Aufgaben und Möglichkeiten.
In seinem Kommentar zu unserer Mischna wirft Jizhak Abarbanel (1437–1508) die Frage auf, warum Rabbi Akiwa einen Vers aus Kapitel 9 zitiert hat und nicht jene Verse aus dem ersten Kapitel, die die Gottebenbildlichkeit erwähnen.
Rabbi Abarbanels Antwort lautet: Die Verse in der Schöpfungsgeschichte berichten lediglich, was geschehen ist. Rabbi Akiwa kam es jedoch darauf an, jenen Vers zu zitieren, in dem der Ewige Noach und seinen Söhnen eine Erklärung gab: »Wer Blut eines Menschen vergießt, dessen Blut soll durch Menschen vergossen werden, denn im Bild Gottes hat Er den Menschen geschaffen« (1. Buch Mose 9,6). Warum gab die Tora hier eine Begründung? Damit die Menschen die Gottebenbildlichkeit zu schätzen wissen.
Selbstbewusstsein Der uns mitgeteilte Vorzug soll unser Selbstbewusstsein stärken, und dieses Wissen ist für uns zugleich eine Verpflichtung. Rabbiner Joseph Herman Hertz (1872–1946) schreibt in seinem Tora-Kommentar: »Weil der Mensch im Ebenbild Gottes geschaffen ist, kann er auch nie auf die Stufe einer Sache (…) herabgedrückt werden; er bleibt eine Persönlichkeit mit unveräußerlichen Menschenrechten.«
Was genau bedeutet Gottebenbildlichkeit des Menschen? Wir wissen bereits: Zelem Elokim macht den Unterschied zwischen dem Menschen und den anderen Lebewesen aus – aber worin besteht dieser Unterschied?
Wie der israelische Literaturwissenschaftler Avigdor Shinan bemerkte, sind hierzu verschiedene Ansichten vorgebracht worden. Manche sagen: Der Verstand macht den Unterschied aus; andere meinen: das Gewissen; einige Autoren verweisen auf die Fähigkeit des Menschen, Neues zu erschaffen und die Natur zu beherrschen; andere betonen die Freiheit, sich für oder gegen etwas zu entscheiden und dementsprechend handeln zu können.
Kann man angeben, welche Interpretation Rabbi Akiwa im Sinne hatte? Rabbi Jehuda Löw, der Maharal von Prag (um 1520–1609), bejaht diese Frage. Er sieht einen Zusammenhang zwischen dem oben angeführten Mischna-Text und dem Ausspruch von Rabbi Akiwa in der darauffolgenden Mischna: »Alles ist vorausgeschaut, doch die Freiheit ist gegeben.«
willensfreiheit Betrachtet man beide Aussagen zusammen, dann bedeutet Gottebenbildlichkeit: Der Mensch kann tun und lassen, was er will – wie der Schöpfer! In diesem Punkt der Willensfreiheit besteht eine Ähnlichkeit zwischen den Menschen und Gott.
Es ist bemerkenswert, dass die Tatsache der Gottebenbildlichkeit bei jeder jüdischen Hochzeit erwähnt wird, im vierten der sieben Segenssprüche, die man unter der Chuppa spricht. Warum gerade bei dieser feierlichen Gelegenheit? Um den Partnern bei der Gründung ihres neuen Hauses deutlich zu machen, dass sie nun die Möglichkeit haben, gemeinsam an der Entwicklung mitzuwirken, die der Schöpfer in Gang gesetzt hat.