Herr Professor Schulte, der Untertitel Ihres Buchs »Von Moses bis Moses …« lautet »Der jüdische Mendelssohn«. Das klingt so, als gäbe es auch einen christlichen Moses Mendelssohn …
Der Untertitel ist natürlich eine Provokation. Die soll auf ein Problem aufmerksam machen: In der Aufklärungsforschung gab und gibt es den Blick auf Moses Mendelssohn als Ausnahmejude unter den christlich-deutschen Aufklärern. Der kann bei Leibniz, Wolff, Kant, Lessing, Nicolai, Herder, Jacobi und so weiter mithalten, obwohl er Jude ist. Aber warum und wie er Jude ist und Jude bleibt, hat keinen gekümmert. Erst in den vergangenen drei Jahrzehnten, in der Erforschung der Haskala, der jüdischen Aufklärung, ist klar geworden, dass Mendelssohn ja auch innerjüdisch Position bezog und für die Haskala eine Vorbildfunktion hatte. Aber selbst seine Bezugnahme auf die biblischen und rabbinischen Traditionen war wenig erforscht. Wenn man nun ebendiesen »jüdischen Mendelssohn« präsentieren will, muss man zeigen, wie ernst er die rabbinischen Quellen nimmt und wie sein Judesein sein Verhältnis zur deutschen Aufklärung und zu ihren Diskussionen über Fortschritt, Moral, Bildung, Erziehung, bürgerliche Verbesserung, aber auch Vernunft und Offenbarung, Gottesbegriff und Bibelkritik prägte.
Sie zitieren einen Brief von Moses Mendelssohn an Jacob Emden, den Rabbiner von Altona, von 1773. Mendelssohn, damals schon ein namhafter Philosoph, unterschrieb seinen Brief demütig mit »Mosche ha-Katan mi-Dessau« – »der kleine Mosche aus Dessau«. War das tatsächlich seine Haltung?
Diese Unterschrift ist nicht ironisch, sie ist Ausdruck von einem menschlichen Respekt, den Moses Mendelssohn allen seinen Brief- und Gesprächspartnern entgegenbrachte, bekannt oder unbekannt, Freund oder Feind. Arroganz ist Mendelssohn fremd. Gegenüber Emden weiß er, wer er ist: Er ist der Sohn eines Sofer, eines Toraschreibers aus Dessau. Er ist kein Rabbiner. Mit dieser Formulierung »Mosche ha-Katan mi-Dessau« bringt er seine Hochachtung gegenüber einer großen rabbinischen Autorität wie Jacob Emden zum Ausdruck. Das heißt aber nicht, dass er nicht klar und höflich in seinen Briefen seine Differenzen mit Jacob Emden benennt, zum Beispiel im Streit um die frühe Beerdigung von Juden oder im Streit über die Möglichkeit, dass alle Gerechten unter den Völkern ewige Seligkeit erlangen und nicht nur die Juden.
»Von Moses bis Moses«, vom Moses der Tora bis Moses Mendelssohn – welches sind die jüdischen Quellen?
Die wichtigsten jüdischen Philosophen waren für Mendelssohn Maimonides und Spinoza. In der Tora-Auslegung zitiert Mendelssohn Talmud und Midraschim, mittelalterliche Exegeten wie Raschi und Ramban. Die berühmte Tora-Übersetzung von Moses Mendelssohn ins Hochdeutsche war die erste vollständige deutsche Übersetzung durch einen Juden überhaupt. Sie wurde mit einem hebräischen Kommentar – dem »Biur« – versehen, den Mendelssohn an wichtigen Stellen auch selbst verfasst und autorisiert hat. Einige sehr konservative Rabbiner haben die Übersetzung ins Deutsche als Profanation der Heiligen Schrift kritisiert, andere Rabbiner haben dagegen diese Übersetzungs- und Kommentarleistung hoch geschätzt, und seit Ende des 18. Jahrhunderts wurde diese Übersetzung in Mittel- und Osteuropa immer wieder nachgedruckt.
Das heißt, auch in der Orthodoxie wurde das Buch akzeptiert?
Es hat sich einfach durchgesetzt. Es ist auch nie von irgendeinem Rabbiner gebannt worden. Mendelssohns Ansehen war schon zu Lebzeiten so hoch, dass das nie jemand gewagt hätte – er hätte sich unmöglich gemacht.
Sie gehen auf die Torastelle ein, in der es auf Hebräisch »Eheje ascher Eheje« und in der Mendelssohn’schen Übersetzung heißt: »Ich bin das Wesen, welches ewig ist« (2. Buch Mose 3,14). Mendelssohn ist also der erste jüdische Tora-Übersetzer, der den Begriff »Der Ewige« geprägt hat?
Ja, das war sein Gottesbegriff, und im Kommentar zu seiner deutschen Pentateuch-Übersetzung begründet er auch, warum er den unaussprechlichen Gottesnamen des Tetragramms mit »Der Ewige« übersetzt. In diesen hebräischen Buchstaben sind alle Zeitformen von »Sein« im Hebräischen enthalten, denn Gott existiert ewig, unveränderlich und notwendig in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Mendelssohn setzt sich dabei im Kommentar mit Maimonides auseinander, der in seinem Hauptwerk »More Newuchim« (»Führer der Verwirrten«) über die immerwährende, allzeitige Existenz Gottes geschrieben hatte: Das Wesen Gottes ist seine ewige Existenz. Franz Rosenzweig hatte dagegen unrecht mit seiner Behauptung, dass »der Ewige« aus der christlichen Theologie des 18. Jahrhunderts oder aus christlichen Bibelübersetzungen entlehnt sei. Ich bin der Meinung, dass Rosenzweig Mendelssohns Biur nicht gelesen hat – da wird Maimonides ausdrücklich zitiert.
Was ist der am weitesten verbreitete Irrtum über Moses Mendelssohn?
Moses war nicht Nathan! Die Sichtweise, dass Lessing in »Nathan der Weise« seinem Freund Moses Mendelssohn ein Denkmal gesetzt hat, ist sehr verbreitet. Am Höhepunkt des Stücks erzählt Nathan die Ringparabel. Die drei Ringe, die für die abrahamitischen Religionen stehen, sind laut einer populären Interpretation der Ringparabel dem göttlichen Vater alle gleich viel wert. Wenn man nun Nathan und Moses gleichsetzt, dann entsteht das Bild von einem Ökumeniker, der Islam, Christentum und Judentum gleichermaßen wertschätzt. Aber Moses Mendelssohn war kein Vorläufer des jüdisch-christlichen Dialogs, er übte in einem privaten Brief an den Erbprinzen von Braunschweig sehr scharfe Kritik am Christentum. Die Trinitätslehre hielt er für logisch, nicht plausibel: Gott kann nur einer oder drei sein, nicht beides zugleich. Dass Gott Mensch geworden sei, konnte er ebenfalls nicht akzeptieren: Wenn der Ewige immer existiert, kann er nicht eine endliche menschliche Existenz zwischen Geburt und Tod werden. Die Kreuzestheologie leuchtet ihm ebenfalls nicht ein: Moralisch könne niemand stellvertretend die Sünden anderer tilgen, denn jeder sei für seine Sünden selbst verantwortlich und müsse sie selbst bereuen und korrigieren. Auch die Vorstellung von Höllenstrafen konnte er nicht akzeptieren. Zusammengefasst: Als Religion ohne solch rational nicht nachvollziehbare Glaubenslehren schien Mendelssohn das Judentum viel besser vereinbar mit Vernunft und Aufklärung als das Christentum. Ungeachtet dessen besteht Mendelssohn in demselben Brief darauf, dass auch gerechte Christen und Muslime ewige Seligkeit erlangen können. Den Heilsabsolutismus und die Alleinseligkeitsansprüche nur einer Religion hat Mendelssohn dagegen abgelehnt. Das war für ihn Fanatismus.
Sie widmen eines der Kapitel der Haltung Mendelssohns zu den Noachidischen Geboten. Was ist Ihre Hauptthese?
Die sieben Noachidischen Gebote – darunter das Verbot des Blutvergießens, der Unzucht, des Raubes, der Gotteslästerung und der Vielgötterei – werden von den Rabbinen im Talmud (Traktat Sanhedrin) begriffen als Gebote, die Gott schon Noach und all seinen Nachfahren gegeben hat, bevor er Mosche und dem Volk Israel die Tora mit 613 Geboten und Verboten gegeben hat. Da wir alle Nachfahren von Noach sind, gelten diese Noachidischen Gebote sozusagen als Minima Moralia für alle Menschen. Juden können laut dem Talmud mit allen Fremden und Nichtjuden, welche die Noachidischen Gebote halten, in einer Stadt oder einem Gemeinwesen zusammenleben, ohne dass die Fremden zum Judentum übertreten müssen. Mendelssohn nun interpretiert die Noachidischen Gebote als eine Art von göttlich gegebenem Naturrecht. Er ist aber wie Spinoza, und gegen Maimonides, der Ansicht, dass die Noachidischen Gebote nicht nur deshalb gelten, weil Gott sie gegeben hat, sondern weil sie als moralischer Minimalkonsens und natürliches Gesetz – wie zum Beispiel das Verbot des Blutvergießens und des Raubes – vernünftig, plausibel und für alle Menschen nachvollziehbar sind.
Mendelssohn, so meinen Sie, hätte das Zusammenleben mit Muslimen, die als Flüchtlinge nach Deutschland kommen, gutgeheißen. Was macht Sie da so sicher?
Mendelssohns Interpretation der Noachidischen Gebote: Ein Fremder, Flüchtling oder Migrant, der sich an die Noachidischen Gebote hält, kann mit Juden in einem Gemeinwesen wie der Bundesrepublik Deutschland zusammenleben. Er kann bleiben. Gott liebt den Fremden, heißt es in der Tora (5. Buch Mose). Denn er ist auch dessen Schöpfer, und er liebt seine Geschöpfe. Das gilt für Muslime wie natürlich auch für Christen. Entsprechende Gerichtsurteile gibt es übrigens auch vom Obersten Gericht in Israel hinsichtlich afrikanischer Flüchtlinge: Es gelten die internationalen Flüchtlingskonventionen, rabbinisch aber die Noachidischen Gebote. Die Flüchtlinge dürfen in Israel bleiben.
Mendelssohn war ein gläubiger Jude, der lieber auf Bürgerrechte verzichten als die Gebote der Halacha brechen wollte …
Er ist zum Beispiel niemals ohne Kopfbedeckung durch die Straßen von Berlin gegangen.
Mit Kippa?
Kippa, Dreispitz, oft hat er auch eine Perücke getragen. Es ging nicht um die Art der Kopfbedeckung – aber der Kopf musste bedeckt sein, um der Tora Genüge zu tun.
Bis heute wird Moses Mendelssohn im öffentlichen Leben in Israel kaum gewürdigt – Sie schreiben sogar, in Jerusalem sei nicht einmal eine Sackgasse nach ihm benannt. Woran liegt das?
Das müsste man natürlich immer nach neuestem Stand im Internet überprüfen, es wird dort ja viel gebaut. Aber als ich in Jerusalem lebte, war in den gängigen Stadtführern und im Straßenverzeichnis nur Erich Mendelsohn bekannt, der Architekt, der das Hadassah-Krankenhaus auf dem Mount Scopus entworfen hat. Wie auch immer, jedenfalls galt Moses Mendelssohn im frühen Zionismus als Vater der jüdischen Assimilation in Deutschland, und er wurde deshalb ideologisch angefeindet.
Viele Zionisten machten Mendelssohn zum Vorwurf, dass seine Kinder und Enkel sich taufen ließen. Ist das der Grund?
Ja, auch dafür machte man ihn verantwortlich. Aber nicht alle Kinder von Mendelssohn haben sich taufen lassen. Und wenn man Mendelssohn gelesen hat, dann weiß man, dass er nach heutigem Maßstab ein observanter Jude war, der auf dem Einhalten aller Gebote der Tora bestand und die rabbinische Tradition klug und konsequent verteidigte. Ihm die Verantwortung dafür zu geben, dass sich einige seiner Kinder oder Enkel 20 oder 30 oder 40 Jahre nach seinem Tod taufen ließen, ist im Grunde unjüdisch, denn jeder wird nach seinem eigenen Verhalten gerichtet, nicht nach dem seiner Vorfahren oder Nachkommen. Mendelssohn, das wissen wir, hat seine Kinder jüdisch erzogen. Er verkörperte zu Hause und öffentlich, dass es kein Widerspruch ist, ein toratreuer Jude zu sein und zugleich an der europäischen Aufklärung mitzuwirken. Er wollte die jüdische Religion und Kultur nicht aufgeben und hat sich trotzdem der Literatur, der Kunst und der Philosophie der Aufklärung geöffnet. Im 19. Jahrhundert hat das deutsche Judentum einen Schritt zur Konfessionalisierung getan, aus Juden wurden deutsche Bürger mosaischer Konfession. Für manche Juden führte der Weg sogar aus dem Judentum heraus, in atheistische Optionen oder auch zur Taufe. Aber Mendelssohn hat damit nichts zu tun, auch wenn Zionisten ihn bezichtigen, Urheber solcher Assimilation an die deutsche Gesellschaft zu sein. Er schreibt übrigens 1770 in einem Brief an den Zürcher Prediger Johann Caspar Lavater, dass er die Religion seiner Väter von Jugend an geprüft und für gut befunden habe – und deshalb nicht entfernt daran denke, sich taufen zu lassen. Das ist ein Erbe der Mendelssohn’schen Aufklärung bis heute: Man ist freiwillig und selbstbewusst Jude, nachdem man sich Gedanken über sein Judesein gemacht und sich dafür entschieden hat – und man übernimmt nicht einfach nur unkritisch, was die Väter immer schon gemacht haben.
Mit dem Professor für Jüdische Studien und Philosophie an der Universität Potsdam sprach Ayala Goldmann.
Christoph Schulte: »Von Moses bis Moses … Der jüdische Mendelssohn«. Wehrhahn, Berlin 2020, 248 S., 22 €