Aufwachen ist das Thema des Monats Elul. Ab Rosch Chodesch, dem Monatsbeginn, weckt uns das Schofar zu einer 40-tägigen Wanderung, deren Ziel Jom Kippur ist. Die Frage »Menschenskind, was schläfst du?« kennen wir aus dem Buch Jona: Mit diesem Vorwurf wendet sich der Kapitän des sturmgeschüttelten Kahns an den schlafenden Jona, der sich im Schiffsbauch verkrochen hatte, um vor seinem Auftrag zu fliehen.
Das tägliche Schofarblasen im Elul ist ein Weckruf für uns, uns auf die bevorstehenden Hohen Feiertage vorzubereiten, Seelenprüfung (Cheschbon Nefesch) und Umkehr nicht länger aufzuschieben. Das hebräische Wort für »besser werden/machen« hat dieselbe Wurzel (Schin-Fe-Resch) wie Schofar.
signal Die archaischen, nur wenig modulierbaren Töne des Widderhorns gehen durch Mark und Bein. Dieser Klang ist so ganz anders als Verkehrslärm, Stimmen, Musik, Klingeltöne und andere akustische Reize, die uns beständig als Geräuschkulisse umgeben.
Er lässt sich nicht überhören, dieses Signal reißt uns aus dem Alltag heraus, und das ist auch der Sinn des Gebots, das alle, Männer wie Frauen, zum Hören des Schofars verpflichtet. Aber wir sind nicht die einzigen Adressaten dieser nur in ihrem Rhythmus variierbaren Schofartöne.
Das Blasen des Schofars ist zugleich eine Art nonverbales Gebet, das sich an Gott richtet: Mit Psalm 44,24 rufen wir Gott zu: »Erwache! Warum schläfst du, mein Herr? Wach auf! Verstoße uns nicht für immer.« Am Jom HaDin, dem Gerichtstag von Rosch Haschana, möge Gott vom Thron des gerechten Urteils auf den Thron des Erbarmens wechseln.
SCHOFAR Wenn das Schofar den Klang des Elul ausmacht, so sind die Selichot das Gebet des Monats. In sefardischen Synagogen werden diese Gebete um Vergebung ab dem Tag nach Rosch Chodesch gesagt. In manchen Synagogen beginnen die Selichot-Gebete noch vor Tagesanbruch, das spirituelle Erwachen setzt also ein ganz physisches Wachwerden voraus.
Das greift ein populärer sefardischer Pijut (liturgisches Gedicht) auf, fragt wie das Buch Jona »Menschenskind, was schläfst du?« und setzt fort:»Steh auf, rufe flehentlich, gieß dein Herz aus und suche Vergebung vom Herrn der Herren./Säubere dich, werde rein und eile, bevor sich die Tage neigen.«
Viele sefardische Selichot-Lieder werden mit sehr rhythmischen, durchaus fröhlichen Melodien gesungen, was durchaus beim Wachwerden hilft. In aschkenasischen Synagogen beginnen die Selichot erst am letzten Schabbatausgang vor Rosch Haschana, in diesem Jahr also am 9. September abends, um danach Bestandteil des täglichen Morgengebets zu werden.
gnadenformel Im Zentrum der Selichot-Gebete stehen die »Schlosch Essrej Middot«, die 13 barmherzigen Eigenschaften Gottes (2. Buch Mose 34, 6–7), die Gott selbst als Gnadenformel gelehrt hatte. Nach der Sünde des Goldenen Kalbs hatte sich Mosche aufgemacht, um Vergebung für das Volk zu erwirken und eine Kopie der von ihm zertrümmerten Bundestafeln zu erhalten.
Diese Verse mit der Selbstbeschreibung Gottes als barmherzig und gnädig sind zum festen Bestandteil jüdischer Gottesdienste an Tagen mit Gerichtscharakter geworden. Nach Überlieferung eines Midrasch war Mosche am 1. Elul aufgebrochen, um dann nach 40 Tagen, am 10. Tischri, die Tafeln des erneuerten Bundes zu bekommen.
Mit der 40-tägigen Phase bis Jom Kippur vollziehen wir gewissermaßen diesen Aufstieg zu Gott nach, begleitet von Schofarblasen und Selichot-Gebeten, und bitten wie Mosche: »Verzeihe unsere Missetaten und unsere Verfehlungen, und nimm uns an« (2. Buch Mose 34,9). Elul ist ein Monat, in dem wir Nähe und Begegnung suchen und hoffentlich auch spüren. Die Anfangsbuchstaben Alef-Lamed-Waw-Lamed der hebräischen Worte des Verses »Ich gehöre meinem Geliebten, und mein Geliebter gehört mir« (Hohelied 6,3) ergeben als Akronym »Elul«.
An Rosch Haschana ziehen alle Geschöpfe unter Gottes prüfendem Blick vorbei.
Aber der Anfang des Monats Elul ist nicht allein ein Auftakt für die Hohen Feiertage. In der Mischna (Rosch Haschana 1,1), die von den vier verschiedenen Jahresanfängen handelt, heißt es, dass der 1. Elul das Neujahr, also der Stichtag für das Verzehnten des Viehs, ist.
UMWELT Es ist dieselbe Quelle, die das Neujahrsfest der Bäume zu Tu Bischwat begründet, das über verschiedene Zwischenstufen heute den Charakter eines Tages des Umweltbewusstseins angenommen hat. Analog haben in den vergangenen zehn Jahren auch Bemühungen eingesetzt, den 1. Elul als einen Tag des Tierschutzes zu begehen. So wichtig auch das Schächten für die Produktion von koscherem Fleisch ist: Wir sollten uns nicht allein dafür interessieren, wie ein Tier zu Tode gekommen ist, sondern auch fragen, unter welchen Umständen es zuvor gelebt hat.
Tiere in all ihren Gattungen sind Mitbewohner unserer Erde (mitunter sogar unseres Haushalts!), und unsere Aufgabe ist der Erhalt ihrer Lebensräume und ihrer Artenvielfalt. Es ist nicht schwer, mit Liedern und mit Texten aus biblischen und rabbinischen Quellen ein Ritual zu schaffen, das unsere Verantwortung für das Tierwohl in Erinnerung ruft. Immerhin gehört auch dieser Aspekt von selbstkritischer Betrachtung unserer Lebensweise zur Vorbereitung auf Rosch Haschana.
Dieser Tag der Erschaffung der Welt gilt nicht allein uns, vielmehr ziehen an diesem Tag alle Geschöpfe unter Gottes prüfendem Blick vorbei. Wir sind nur ein Teil dieser Parade.
Die Autorin ist Rabbinerin der Jüdischen Gemeinde Hameln, betreut die Liberale Gruppe der IRGW Stuttgart und ist Mitglied der Allgemeinen Rabbinerkonferenz (ARK).