Lange, viel zu lange hat dieser Winter in Deutschland gedauert. Noch an Pessach fielen die letzten Schneeflocken, und bis weit in den April herrschten Minusgrade. Nun, da es wärmer geworden ist und die Sonne uns aufs Neue ihr Gesicht zeigt, passt das hiesige Wetter auch wieder besser zum jüdischen Kalender: Den Monat Ijar, der in der Tora als zweiter Monat des Jahres erwähnt wird, bezeichnet das 1. Buch der Könige (6,37) als Monat Siv.
Siv bedeutet auf Hebräisch Licht oder Knospe – angelehnt an die Jahreszeit, die längere Sonneneinstrahlung und auch die Pflanzenblüte. Der Monatsname Ijar stammt von dem Wort Ayaru ab, was wiederum in der akkadischen Sprache Licht bedeutet. Der jüdische Monat und seine Tage stehen in Verbindung mit dem Verlauf des Mondes und der Sonne: Ein Monat beginnt, wenn der Mond sich als Sichel am Himmel zeigt, und der Tagesverlauf richtet sich nach der Sonne, so wie der Gebetsverlauf: Morgen- und Abendgebet, Schabbatausgang und -eingang.
KREISLAUF Das hebräische Wort Chodesch (Monat) kommt von dem Wort chadasch (neu). Wir erneuern uns jedes Mal mit der Natur, denn sie nimmt Einfluss auf uns Menschen, auf unseren Körper, unseren Geist und unsere Seele. Wie Ebbe und Flut, wie Licht und Dunkelheit kann der Mensch nicht konstant sein – es herrscht ein stetes Auf und Ab. Er erneuert sich ständig bis in seine kleinsten Hautzellen, und auch dieser Prozess ist vom Verlauf der Natur abhängig.
Die Namen aller Monate des jüdischen Kalenders sind erst in der nachbiblischen, babylonischen Zeit entstanden. In der Tora werden die Monate nur als erster, zweiter, dritter Monat bezeichnet – jedoch mit Zusatzinformationen. Die Kabbala versucht auf ihre Weise, den Aufbau des Jahreskreises zu erklären: Hier spricht man vom Chodesch Nissan, dem ersten Monat des Jahres, der als Monat der Erlösung (Ge’ula) bezeichnet wird. Das Licht des Ewigen, die höchste Heiligkeit, ist nach dieser Lesart dem Volk Israel erschienen, ohne dass es etwas dafür tun musste.
Brücke Der zweite Monat Ijar gilt als Brückenmonat: Hier muss der Mensch dieses Licht aufnehmen, verarbeiten, verinnerlichen und in der Lage sein, es auf einer universalen Ebene umzuwandeln, um damit die Welt zu verbessern. Das Licht leuchtet dann hinüber in den dritten Monat Siwan, in dem die Kinder Israel an Schawuot die Tora, die auch Licht genannt wird, erhielten. So wie es in den Sprüchen Salomons 6,23 heißt: »Denn eine Mizwa (Gebot) ist eine Kerze, und die Tora ist Licht.«
Das Unvorstellbare, das Übernatürliche, das uns im Monat Nissan gegeben wurde (das Licht, die Heiligkeit G’ttes), reduzieren wir – beziehungsweise wir lenken es auf die Materie um. Wir sind wie eine Membran, denn der Mensch ist nicht in der Lage, mit solch einer großen Masse an Heiligkeit im Körper zu bestehen. Wie ein Ventil verarbeiten wir diese Heiligkeit durch die Materie, da auch wir aus Materie bestehen.
GARBEN Dass König Salomon den ersten Tempel ausgerechnet im Monat Ijar errichtete, ist wohl kein Zufall. Denn der Tempel besteht aus Materie, wurde aber erbaut, um der Heiligkeit G’ttes einen Platz einzuräumen. Auch wir müssen Materie und Heiligkeit verbinden. Was uns dabei hilft, all dies zu verarbeiten, ist die Omerzählung zwischen Pessach und Schawuot. Omer bedeutet wörtlich »Garbe«, und das Omerzählen fällt in die Zeit der Getreideernte.
Nach der Zerstörung des Tempels wurde diese Periode allerdings zur Zeit der Trauer, während der weder gefeiert noch geheiratet werden darf. Auch wegen anderer Katastrophen in der Geschichte des jüdischen Volkes gelten die Omertage zwischen Pessach und Schawuot als traurige Zeit. Unterbrochen werden sie nur von dem fröhlichen Fest Lag BaOmer am 33. Tag der Omerzählung (der diesmal auf den 28. April fällt), an dem Picknicks und Lagerfeuer veranstaltet werden.
Die Omerzählung dauert sieben Mal sieben Wochen, also 49 Tage. Sieben ist die Zahl und das Symbol der Natur und der gesamten Einheit, sie steht für die Richtungen oben, unten, rechts, links, vorne, hinten und das Zentrum. Die Omerzählung hat zweierlei Zwecke. Zum einen streben wir nach oben; wir eifern dem Licht, der Heiligkeit, der Tora nach. Zum anderen muss jeder Mensch täglich an seinen Eigenschaften arbeiten und sich verbessern, an der Materie arbeiten, bis wir wieder das Niveau des Lichts erreichen.
Ausgleich Der Monat Ijar, der zwischen den Festen Pessach und Schawuot liegt, ist auch in diesem Sinn ein Brückenmonat, dass er die beiden Ereignisse miteinander verbindet. Die Zeit zwischen Pessach und Schawuot gilt als Zeit des Ausgleichs, was sich auch in der Natur widerspiegelt. Alle drei Wallfahrtsfeste, Pessach, Schawuot und Sukkot, stehen in intensiver Verbindung zur Natur und ihren Jahreszeiten, so wie sie in Israel verlaufen.
Im 2. Buch Mose 23, 14–16 heißt es: »Dreimal im Jahr sollst du mir ein Fest feiern: Das Fest der ungesäuerten Brote sollst du halten; sieben Tage sollst du ungesäuerte Brote essen, wie ich es dir befohlen habe, zur Zeit des Frühlingsmonats, denn in ihm bist du aus Ägypten gezogen. (...) Und das Fest des Schnittes, der Erstlinge deiner Arbeit dessen, was du auf dem Feld gesät hast, und das Fest der Einsammlung am Ausgang des Jahres, wenn du deinen Arbeitsertrag vom Feld einsammelst.«
Pessach muss, wie es in der Tora geschrieben steht, im Frühling gefeiert werden. Schawuot, auch Fest des Schnittes genannt, fällt in den Monat Siwan. Und Sukkot gilt als Fest der Einsammlung und findet im Herbst statt. Die Verbindung von Feiertagen und Jahreszeiten hilft uns, nicht gegen den Lauf der Natur, sondern mit ihr zu leben. Nur so können wir im Einklang mit ihr stehen – in Israel und der Diaspora.