Morgen, am 21. November, veranstaltet der Zentralrat der Juden wieder den Mitzvah Day in Deutschland. Menschen aus jüdischen Gemeinden sind an diesem Tag zu guten Taten aufgerufen, zu Hilfsaktionen für ältere und kranke Menschen oder Geflüchtete. Doch was ist der Unterschied einer guten Tat, die wir umgangssprachlich auch »Mizwe« nennen, und einer Mizwa, also einem Gebot der Tora?
Die 613 Mizwot der Tora wurden uns gegeben, sagen einige unserer Weisen, um G’tt näher zu kommen. Es gibt vielen Menschen eine innere Befriedigung, auf G’ttes Wegen zu wandeln. Obwohl das Wort Mizwa »Gebot« bedeutet, hat das Wort Mizwe im jüdischen Sprachgebrauch auch die Bedeutung von »guter Tat« oder »ein Vergnügen, ein Genuss«. So kann man hören, wie gesagt wird: Ah, tu mir eine Mizwe und tu dies oder das! Das bedeutet dann: Tu mir einen Gefallen!
gefallen Eine zweite Meinung besagt, dass die Mizwot uns gegeben sind, um uns zu reinigen und zu läutern. Beide Bedeutungen – Gebot und gute Tat – passen zu dieser Erklärung. Denn ob wir einander einen Gefallen tun, weil es eine Mizwa (ein Gebot) ist, nur eine nette Geste oder ein Akt spontaner Liebe aus einem Impuls der Zuneigung füreinander – beides reinigt uns, läutert unseren Charakter vom Egoismus und führt zur Nächstenliebe.
Es besteht jedoch ein großer Unterschied zwischen einem Gebot des Allmächtigen und einem spontanen Impuls, jemandem etwas Gutes zu tun. Wenn wir ein Gebot G’ttes erfüllen, sind wir in Kontakt mit dem Allmächtigen.
Man kann dies mit einem Professor vergleichen, der einen Studenten bittet, etwas für ihn zu tun. Sobald der Student tut, was der Professor will, entsteht ein Band zwischen dem Auftraggeber und dem Ausführenden. Durch diese Verbindung wachsen wir über uns hinaus und erreichen eine höhere Ebene.
ABSICHT Wenn wir aus eigenem Antrieb etwas Gutes tun, schafft das nicht automatisch eine Verbindung zwischen Haschem und dem Menschen. Und es ist diese Nähe, die wir suchen. Dies bedeutet, dass die Kawana (Absicht) in unserem Handeln wesentlich ist. Wenn wir etwas Gutes tun, weil unser gutes Gefühl oder unser Gewissen uns dazu auffordert, schafft das eine Bindung auf zwischenmenschlicher Ebene. Das Judentum möchte, dass aus unserem guten Verhalten eine dritte Dimension entsteht: die Verbindung mit dem Schöpfer des Himmels und der Erde.
Das Judentum ist ein To-do-G’ttesdienst. Wer daran teilnimmt, bewahrt die Tradition.
Es ist ein Segen, dass ein physischer Mensch so hoch hinaus kann, dass er durch einfache materielle Taten der Menschlichkeit in Kontakt mit G’tt kommen kann – das Höchste, was ein Mensch in seinem Leben erreichen kann. Der Kontakt mit dem G’ttlichen in der Welt ist zum Greifen nah. Es geht um die gute Absicht mit der guten Tat. Es entsteht eine dreidimensionale Verbindung: G’tt – ich – meine Mitmenschen. Was könnte ich mir mehr wünschen?
Wir Juden sind eine ethnische Gemeinschaft – vielleicht das hartnäckigste Volk der Welt. Es ist uns immer gelungen, unsere Identität zu bewahren, trotz vieler Probleme der Diaspora: Zerstreuung in alle Welt, Assimilation und Antisemitismus. Warum ist das so? Wir haben immer an unserem Glauben festgehalten. Wir haben immer versucht, nach den jüdischen Geboten zu leben und gute Taten zu tun.
Für Mizwot und gute Taten gibt es vier Hintergründe. Erstens: Es gibt nur einen G’tt. Ohne die Absicht, G’tt zu dienen, gibt es eine Gemeinschaft, aber keine Glaubensgemeinschaft. Zweitens: G’tt schloss am Berg Sinai einen Bund mit dem gesamten jüdischen Volk mit vielen Rechten und vor allem Pflichten. Auch gute Taten sind verpflichtend. Sie fallen unter die Pflicht von Chesed (Nächstenliebe).
Drittens: Das Fundament dieses Bundes besteht aus 613 Mizwot. Diese 613 Vorschriften regeln das gesamte jüdische Leben, von der Wiege bis zur Bahre. Viertens: Mit dieser Tora und ihren Vorschriften in den Händen glauben wir an das Kommen eines Maschiachs, der die Herrschaft der Tora und der Mizwot über die ganze Welt verbreiten und den Weltfrieden bringen wird.
ERZIEHUNG Wie praktizieren wir Mizwot und gute Taten? Am Berg Sinai sagten wir zu G’tt: »Na’ase venischma – wir werden erst tun und dann verstehen.« Der hebräische Ausdruck »Na’ase venischma« ist eigentlich die umgekehrte Reihenfolge, besonders für Menschen, die gewohnt sind, unabhängig zu denken. Wie kann man Dinge erst tun und dann verstehen – also tun, ohne zu wissen, was man tut?
Ich hatte anfangs auch große Schwierigkeiten damit, aber es steckt eine wichtige religiöse und pädagogische Wahrheit dahinter. Die Erziehung eines Kindes kann nicht warten, bis man den Grund für das, was man lehrt, erklären kann. Dies kann erst viel später geschehen, wenn das Kind geistig reif genug ist. Man kann mit der Gabe von Obst und Gemüse nicht warten, bis das Kind den Nutzen von Mineralien und Vitaminen erkennen kann. Das Verstehen erfolgt über das Handeln.
PRAXIS Nach jüdischer Auffassung muss man die Einhaltung der Gebote üben; der Einfluss der Einhaltung von Geboten und Ritualen auf unsere Gedanken und Einstellungen darf nicht unterschätzt werden.
Außerdem wird uns reichlich erlaubt und sogar befohlen, die Absichten hinter den Geboten zu studieren. Einige sind eindeutig, zum Beispiel das Verbot des Stehlens. Bei anderen hat man mehr oder weniger begründete Ahnungen, wie das Gebot, das Land in Eretz Israel im siebten Jahr brachliegen zu lassen. In anderen Fällen ist der Sinn unverständlich, zum Beispiel im Gesetz über die Rote Kuh (4. Buch Mose 19, 2–20).
Das Judentum ist ein To-do-G’ttesdienst. Die Leute fragen sich nicht, was man glaubt, sondern was man tut. Indem du das tust, gehörst du dazu: Du bewahrst die Tradition, du tust G’ttes Willen, du wirst ein Glied in der Kette der Generationen bis zur Zeit des Maschiach.
Der Autor ist Rabbiner und lebt in Israel.