Pinchas Goldschmidt, Oberrabbiner von Moskau, begann sein Statement mit einem Witz: »Vor einem Erschießungskommando unter Stalin stehen zwei Juden mit verbundenen Händen und Augen. Der Unteroffizier fängt an zu zählen: ›Zehn, neun, acht, sieben …‹ Einer der beiden Juden beginnt zu beten: ›Schma Israel, Haschem Elokeinu ...‹ Sagt der zweite: ›Fang jetzt nicht damit an! Wir werden noch Probleme bekommen!‹«
Damit war das Thema eingeleitet: Mit der Podiumsdiskussion »Zu jüdisch für Deutschland? Sichtbares jüdisches Leben« hat das orthodoxe Rabbinerseminar zu Berlin am Donnerstagabend sein Jubiläumsjahr zum zehnjährigen Bestehen ausklingen lassen.
Auf dem Podium im Jüdischen Museum Berlin diskutierten Goldschmidt, der auch Präsident der Europäischen Rabbinerkonferenz ist, und Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden. Felix Klein, Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus, stieß wegen seiner Teilnahme am Bund-Länder-Treffen im Kanzleramt erst später dazu.
probleme Goldschmidt appellierte an die Zuhörer, ihr Judentum nicht zu verstecken. Leider gebe es auch heute in Deutschland Hunderte oder Tausende von Juden, die versuchen, ihr Judentum zu verbergen, um weniger Probleme zu haben.
Das Problem sei aber keineswegs nur eines der orthodoxen Juden. Es gebe »unzählige Juden, die Angst haben, in eine Synagoge oder ein Gemeindezentrum zu gehen«, beklagte Goldschmidt. Viele stellten sich auch die Frage, ob sie ihre Kinder in einen jüdischen Kindergarten oder in eine jüdische Schule schicken sollen, weil man sich damit als jüdisch oute.
Moderiert wurde die Veranstaltung von dem Journalisten Richard C. Schneider. Die Fragestellung lautete: »Was bedeutet es, als traditioneller Jude in Deutschland zu leben? Ist es möglich und von Politik und Gesellschaft gewollt? Was können wir dafür tun, dass jüdisches Leben in Deutschland wieder selbstverständlich wird?« Vor Beginn der Diskussion erzählten drei Betroffene über eigene und ihnen von anderen Juden berichtete Erfahrungen mit Ausgrenzung und Anfeindung.
Schächten Rabbiner Goldschmidt beklagte, es gebe generell in Europa ein Problem mit Religionsfreiheit. Er sprach dabei die Beschneidungsdebatte in Deutschland und den Streit um das Schächten in mehreren europäischen Ländern an. Einschränkungen der Religionsfreiheit richteten sich nicht nur gegen das orthodoxe Judentum, sondern gegen alle Juden, betonte der Rabbiner. Zugleich unterstrich er: »Wir haben den Krieg noch nicht verloren.«
Im Verlauf der Diskussion sprach Moderator Schneider Fragen an, die vor allem gläubige Juden betreffen – wie etwa der Wunsch, an allen jüdischen Feiertagen freizunehmen, ohne beim Arbeitgeber »wertvolle Urlaubstage« einzureichen.
Zentralratspräsident Schuster bewertete die Tatsache, dass es dazu in Deutschland keine arbeitsrechtliche Regelung gibt, jedoch nicht als Einschränkung der Religionsfreiheit. Auch Christen hätten solche Rechte nicht. Beispielsweise sei der Reformationstag in Bayern kein Feiertag, und auch ein bayerischer Protestant müsse Urlaub nehmen, wenn er an seinem Feiertag nicht arbeiten wolle.
»Ohne Orthodoxe ist die jüdische Gemeinschaft nicht vollständig«, sagte Rabbiner Goldschmidt.
Juden, die insgesamt deutlich mehr religiöse Festtage haben, sollten versuchen, dies im Gespräch mit ihrem Arbeitgeber auszuhandeln und ihre Feiertage eventuell durch zusätzliche Arbeitstage auszugleichen, empfahl Schuster. Auf die Nachfrage Schneiders, ob der Zentralrat eine Initiative starten wolle, das Recht auf arbeitsfreie religiöse Feiertage festschreiben zu lassen, ohne dass Arbeitnehmer dafür Urlaub nehmen müssten, antwortete Schuster: »Ich glaube, dass eine solche Initiative nicht von Erfolg gekrönt wäre.«
halacha Ebenso pragmatisch reagierte der Zentralratspräsident auf die Frage des Moderators, ob die halachisch vorgeschriebene Bestattung innerhalb von 24 Stunden in allen Bundesländern erfolgen könne: »Ich muss ganz ehrlich sagen, wenn das größte Problem jüdischen Lebens in Deutschland wäre, dass wir im Regelfall erst nach 48 Stunden beerdigen dürfen – seien Sie mir nicht böse, dann wäre ich der Glücklichste hier im Raum!«
Schuster betonte, er habe die Empfindung, dass man von der Politik und insbesondere von der Regierungskoalition nicht nur Lippenbekenntnisse höre, sondern dass es tatsächlich den Wunsch gebe, jüdisches Leben zu schützen und zu fördern.
Auch Rabbiner Goldschmidt beurteilte die Frage nach einer jüdischen Zukunft hierzulande in 20 Jahren optimistisch: Deutschland verstehe, dass es jüdisches Leben brauche. Doch ohne orthodoxe Juden, die sich in der Öffentlichkeit sicher fühlten und nicht wegen ihres Aussehens angegriffen würden, sei eine jüdische Gemeinschaft nicht vollständig.
kippa Ebenso äußerte sich Schneider: Er selbst sei als Jude äußerlich nicht zu erkennen. Doch wenn seine wegen ihrer Kippa als Juden erkennbare Glaubensbrüder offen bedroht würden, könne auch er auf Deutschlands Straßen nicht ruhig gehen.
Rabbiner Goldschmidt wiederum zeigte sich unbeeindruckt von der deutschen Kippa-Diskussion und wiederholte gegen Ende des Gesprächs noch einmal seine Ansicht, die richtige Antwort der gesamten jüdischen Gemeinschaft auf Anfeindungen sei, ihr Judentum offen zu zeigen, auch mit Magen David (Davidstern) und Kippa.
Wenn Juden mit Stolz auftreten, zeige das Wirkung. Dann würden orthodoxe Juden nicht zur Rarität, sondern Teil des Alltags, und auch jüdische Kinder könnten »mit weniger Problemen« mit Kippa unterwegs sein, so der Rabbiner.
Sicherheit Kurz vor Schluss der Diskussion traf Felix Klein ein und überbrachte gute Nachrichten: Der Bund und die Länder haben den jüdischen Gemeinden weitere Unterstützung beim Schutz von Synagogen und anderen jüdischen Einrichtungen in Deutschland zugesagt – auch finanziell. Das geht aus dem Beschluss hervor, auf den sich die Ministerpräsidenten und Kanzlerin Angela Merkel (CDU) verständigten.
Darin begrüßen Kanzlerin und Ministerpräsidenten die bisherigen Maßnahmen des Bundes und der Länder »zum Schutz jüdischen Lebens und zur Bekämpfung des Antisemitismus« und versichern, man werde die Schutzmaßnahmen »fortwährend entsprechend der Gefährdungsbewertung anpassen«.
Absolute Sicherheit, kommentierte Klein, könne es niemals geben, doch die Politik habe verstanden, »dass man etwas tun muss«.
Die Geschäftsführerin des Rabbinerseminars, Sarah Serebrinski, rief zum Abschluss den eigentlichen Anlass der Veranstaltung ins Gedächtnis. Sie betonte die zentrale Rolle von Rabbinern für ihre Gemeinden. Nach der Diskussion kamen die Rabbiner und ihre Gäste im Jüdischen Museum zu einem festlichen Dinner zusammen.
2009 war das 1873 von Esriel Hildesheimer gegründete und 1938 von den Nationalsozialisten geschlossene orthodoxe Rabbinerseminar in Berlin wiedergegründet worden. Seitdem werden dort Rabbiner gezielt für jüdische Gemeinden in Deutschland ausgebildet.