Orthodoxie und Zionismus, das war nicht unbedingt Liebe auf den ersten Blick. Als Theodor Herzls Konzept einer Eigenstaatlichkeit für Juden konkrete Formen annahm, stießen seine Anhänger und er auf den dezidierten Widerstand seitens großer Teile der Orthodoxie.
Für sie war der Aufbau eines säkularen Gemeinwesens – schließlich sprach Herzl vom »Judenstaat« und nicht von einem jüdischen Staat – ein Frevel.
Zion »Zwar beten religiöse Juden dreimal täglich für die Rückkehr nach Zion, doch muss diese von Gott eingeleitet werden und Teil einer religiösen Erlösung im messianischen Reich sein«, bringt der Historiker Michael Brenner diese Abwehrhaltung auf den Punkt.
»Wenn aber assimilierte Juden wie Herzl (…) vor dem Kommen des Messias eine säkulare politische Bewegung gründeten, konnte dies nur als gotteslästerlich gedeutet werden.«
Doch nicht alle dachten so. Der 1865 im heute lettischen Griva geborene Abraham Jizchak Kook bewertete die Aufbauarbeit der Zionisten sogar als ein heiliges Werk. Für ihn stand die demonstrative Irreligio-sität der Chaluzim, der Aktivisten, nicht im Widerspruch zu einem göttlichen Heilsplan. Vielmehr sah er in ihnen seine Instrumente.
Kabbala Kook vertrat dabei eine kabbalistische Geschichtsphilosophie, in der äußere Ereignisse allenfalls die Symbole einer viel tieferen und nicht unbedingt auf den ersten Blick hin erkennbaren Wirklichkeit sind. Auch hatte er eine für orthodoxe Verhältnisse recht unkonventionelle Auffassung von der Moderne. »Alles Neue wird heilig, alles Heilige wird neu«, lautete seine Formel.
Laut Rabbiner Kook bringt nur die Zusammenarbeit zwischen Religiösen und Nichtreligiösen die Erlösung.
Was wie ein Widerspruch aussieht, löst sich bei genauerer Betrachtung von selbst auf. »Ein zentraler Aspekt seines Toleranzverständnisses war die Tatsache, dass Kook sich immer große Mühe machte, den Menschen, mit deren Meinung er nicht unbedingt einverstanden war, Wertschätzung und Respekt entgegenzubringen«, entschlüsselt Yehudah Mirsky, Professor für Near Eastern and Judaic Studies an der Brandeis University in den USA und Autor einer Kook-Biografie, die Haltung dahinter.
»Schließlich würden sie nicht einfach nur Dinge sagen, sondern wichtige Aufgaben erfüllen. Und einige davon waren ihre Beiträge zum physischen und kulturellen Überleben der Juden.«
eXIL Kook betrachtete das Exil als einen provisorischen Modus jüdischer Existenz, den es unter allen Umständen zu ändern galt. Damit griff er ein Konzept der lurianischen Kabbala des 16. Jahrhunderts auf, das auf eine Wiederherstellung der unterbrochenen Verbindung zwischen dem jüdischen Volk und seinem Land abzielte und im modernen religiösen Zionismus populär wurde.
Rabbiner Kook entwickelte diese Gedanken weiter und vertrat die Meinung, dass im Exil ebenfalls der Wunsch, sich von ihm zu befreien, bereits im Kern angelegt sei. In Eretz Israel, so Kook, würden dann alle Gegensätze zwischen Gott und Mensch sowie zwischen Heiligem und Profanem sukzessiv aufgehoben.
Kernelement Sein Konzept von Judentum basierte auf den drei Kernelementen Land, Tora und Volk. Auf diese Weise vermochte er auch Religion und Zionismus zu synchronisieren sowie traditionell-jüdische Gedanken mit denen der Mystik und der westlichen Moderne zu verbinden.
Für ihn konnte sich – so formulierte er es in Orot HaTora (Lichter der Tora), seinem wohl bedeutendsten Werk – der Glaube ganz generell »nur inmitten eines gesunden Volkes, das von seiner Stärke, seiner Regierung, seinem Tempel, seinem Land und allen seinen spirituellen und physischen Besitzungen erfüllt ist«, verbreiten.
All das würde aber eine Neubewertung der Gesetzesobservanz mit sich bringen. Konkret beinhaltete dies die Bereitschaft zur Kooperation mit Juden, für die die Halacha kaum Relevanz im Alltag besaß.
Kibbuznikim Oder anders formuliert: Nur die Zusammenarbeit zwischen Religiösen und Nichtreligiösen schafft letztendlich die Erlösung. Gerade deshalb sah Kook selbst in den sozialistischen Kibbuznikim keine Sünder, sondern wahre Helden. Die Frömmigkeit würde sich eben später einstellen, so seine Haltung.
Berührungsängste mit den Zionisten kannte Kook schon keine, als er 1904 nach Palästina übersiedelte. Dort wurde er Rabbiner in Jaffa und 1921 erster Oberrabbiner des neu geschaffenen aschkenasischen Oberrabbinats, wobei er einen bemerkenswerten Pragmatismus zeigte, der für ihn zum Markenzeichen werden sollte.
»Rav Kook war ein Mensch des Handelns«, betont die Religionshistorikerin Eveline Goodman-Thau im Vorwort zur deutschen Übersetzung von Lichter der Tora. »Seine berühmteste, bis heute gültige halachische Rechtsentscheidung fällte er in der Frage der Schmitta:
scHMITTA Er erlaubte, zugunsten des Überlebens des noch jungen Jischuw, die Früchte der Felder zu essen, die in jenem siebtem, dem Ruhe- oder Schabbatjahr auf den Feldern des Jischuw geerntet wurden und eigentlich nicht hätten gegessen werden sollen.«Bis zum heutigen Tag nehmen ihm Vertreter anderer orthodoxer Strömungen genau das übel und bezeichnen ihn als Abtrünnigen.
Anders als sie hatte Rav Kook auch kein Problem mit dem Konzept einer jüdischen Eigenstaatlichkeit, die für ihn den Anbruch eines messianischen Zeitalters darstellte.
Zwar erlebte er die Gründung Israels nicht mehr – schließlich verstarb er bereits 1935 −, wohl aber entwickelten seine Anhänger, allen voran sein 1891 geborener Sohn Zvi Yehuda Kook, seine Lehre in dem Sinne weiter, dass das gesamte Eretz Israel heilig sei. Deshalb gehörte Kook Junior 1947 zu den Gegnern des von den Vereinten Nationen beschlossenen Palästina-Teilungsplans.
Hebron Sein Argument: Die Tora verbiete es, dass Nichtjuden auch nur das kleinste Stück Land kontrollieren. »Ich saß allein und war rot vor Scham«, erklärte er rückblickend vor seinen Schülern im Mai 1967. »Wo ist unser Hebron – haben wir es vergessen? (...) Ist es uns erlaubt, auch nur einen Millimeter davon aufzugeben?«
Trotzdem gehörte Zvi Yehuda Kook zu den wenigen Vertretern der Orthodoxie, die damals ihren Anhängern nahelegten, in der israelischen Armee zu dienen. Und er übertrug das Konzept der Heiligkeit auch auf den Staat und seine Institutionen.
Auf diese Weise wurde Zvi Yehuda 1967 zugleich Stichwortgeber der Siedlerbewegung Gusch Emunim. Was sein Vater dazu gesagt hätte, darüber kann jedoch nur spekuliert werden.