Trauernde zu besuchen und Worte des Trostes zu sprechen, ist ein Akt der biblisch gebotenen Nächstenliebe. Unsere Weisen machten darauf aufmerksam, dass man bei der Wahl seiner Worte im Trauerhaus äußerst vorsichtig und einfühlsam sein sollte. Denn gut gemeinte Sätze können sich als kontraproduktiv oder sogar als sündhaft erweisen.
Der Tannait Rabbi Jochanan ben Sakkai, der in der Zeit der Tempelzerstörung durch die Römer lebte, verlor einen Sohn. In den Awot de-Rabbi Nathan (A14) wird berichtet, dass fünf seiner Schüler zu ihm kamen, um ihm Trost zuzusprechen.
Adam Rabbi Elieser sagte: »Adam hatte einen Sohn. Der war gestorben, und Adam ließ sich trösten. So nimm auch du Trost an.« Da antwortete Rabbi Jochanan ben Sakkai: »Genügt es nicht, dass ich leide? Außerdem erinnerst du mich an das Leiden von Adam!«
Die Schüler Rabbi Jehoschua, Rabbi Jossi und Rabbi Shimon sprachen in ähnlicher Weise wie Rabbi Elieser. Sie führten die Beispiele Hiob, Aharon und König David an, und Rabbi Jochanan ben Sakkai entgegnete ihnen in der uns bereits bekannten Form.
Erst von den Worten seines Schülers Rabbi Elazar ben Arach ließ sich der Meister trösten. Elazar sagte zu seinem Lehrer, er wolle ihm ein Gleichnis erzählen: »Ein König gab einem Mann ein Pfand. Jeden Tag sorgte sich der Hüter: Wann werde ich das Pfand endlich zurückgeben können? So hattest du, Rabbi Jochanan ben Sakkai, einen sehr gelehrten Sohn, der diese Welt ohne Sünde verlassen hat. Es gereiche dir zum Trost, dass du das Pfand in bester Form zurückgegeben hast.«
Schmerz Warum akzeptierte Rabbi Jochanan ben Sakkai die Worte von Rabbi Elazar ben Arach als trostreich? Weil dieser Schüler nicht über das Leiden anderer Väter sprach, sondern direkt über den gerade erst verstorbenen Sohn, dessen Vorzüge er aufzählte. Er unterstrich den herben Verlust von Rabbi Jochanan ben Sakkai und ordnete durch sein Gleichnis den Tod des Sohnes in einen solchen Sinnzusammenhang ein, der den akuten Schmerz des Trauernden zu lindern vermochte.
Wenden wir uns nun einem weiteren Beispiel zu. Im Talmud (Baba Kama 38a) steht, dass der Amoräer Schmuel ben Jehuda eine Tochter verloren hatte. »Die Gelehrten sprachen zu Ulla: ›Komm, wir wollen ihn trösten gehen.‹ Ulla erwiderte: ›Was soll ein Trost der Babylonier, der eine Gotteslästerung ist?‹ Sie pflegten nämlich zu sagen: ›Was ist dagegen zu tun?‹ Als ob sie etwas gegen Gottes Ratschluss getan hätten, wenn es in ihrer Macht gewesen wäre.«
Ullas Kritik am Trostspruch der babylonischen Gelehrten wurde kodifiziert (Kizzur Schulchan Aruch 207,4): Wer Trauernde trösten will, darf nichts sagen, was als eine Lästerung verstanden werden könnte.
Hiob Der nächste Fall zeigt uns, dass beim Kondolieren kränkende Bemerkungen zu vermeiden sind. Unter den Beispielen für das verbotene Wehtun mit Worten, die der Talmud (Baba Metzia 58b) anführt, finden wir eine Bemerkung von Hiobs Freund Elifas: »Begräbt jemand seine Kinder, so spreche man nicht zu ihm, wie es die Genossen mit Hiob taten: ›Bedenke doch, wer kam je schuldlos um?‹« (Hiob 4,7).
Amos Chacham erklärt, Elifas habe zwar die beste Absicht gehabt, aber seine Trostworte hätten den leidgeprüften Hiob schwer getroffen, weil er von ihm das Eingeständnis erwartete, seine verstorbenen Kinder seien Übeltäter gewesen.
Ein merkwürdiger Ausspruch des babylonischen Amoräers Rav Papa ist im Traktat Berachot (6b) überliefert: »Der Lohn des Trauerhauses ist das Schweigen.«
Man hat folgende Erklärung gegeben: Rav Papas Bemerkung lehre uns, dass ein Besucher des Trauerhauses die Anteilnahme am schmerzlichen Verlust am besten durch Schweigen zeigt. Das sei viel besser, als etwas Falsches zu sagen.
Mir scheint jedoch, dass Rav Papa einen anderen Punkt hervorheben wollte: Ziel des Besuches im Trauerhaus sei es, dazu beizutragen, dass die Trauernden das Geschehene akzeptieren. Beispielhaft verhielt sich Aharon, der am Tag der Einweihung des Heiligtums zwei Söhne verlor und von seinem Bruder Mosche Worte des Trostes hörte. Wie die Tora schreibt, beruhigte sich Aharon daraufhin und schwieg (3. Buch Mose 10,3).