Wajigasch

Mit Hoffnung und Zuversicht

Josef vertraut in G’tt, dass die Dinge sich zum Guten wenden

von Rabbiner Jaron Engelmayer  10.12.2021 10:35 Uhr

Es gibt niemals einen Grund zum Verzweifeln – es lohnt sich, dem Lauf der Dinge dieses Vertrauen entgegenzubringen. Foto: Getty Images/EyeEm

Josef vertraut in G’tt, dass die Dinge sich zum Guten wenden

von Rabbiner Jaron Engelmayer  10.12.2021 10:35 Uhr


Ein Familientreffen ist für manche ein freudig erwartetes Ereignis, für andere jedoch ist es ein abschreckendes Szenario. Josef dürfte wohl zu den Ersteren zählen: Nach mehr als 20 Jahren Trennung sehnt er sich nach der Vereinigung mit seinen Brüdern und seinem geliebten Vater.

Rührend ist die in unserem Wochenabschnitt beschriebene Szene, als sie wieder zusammentreffen: »Da bespannte Josef seinen Wagen und zog hinauf, seinem Vater Jisrael entgegen nach Goschen. Und als dieser ihm zu Gesichte kam, fiel er ihm um den Hals und weinte lange an seinem Hals. Und Jisrael sprach zu Josef: Mag ich nunmehr sterben, nachdem ich dein Antlitz gesehen habe, dass du noch lebst« (1. Buch Mose 46, 29–30).

SCHWEIGEN Umso schwerer wiegt der Umstand, dass sich Josef 22 Jahre lang in Schweigen gehüllt hat. So lange lebte er in Ägypten, ohne seinem trauernden Vater Bescheid zu geben, dass er noch am Leben ist! Warum hat er während dieser Zeit keinen einzigen Brief an Jakow geschickt?

Vielleicht hatte er als Sklave im Hause Potiphars, obwohl mit Privilegien ausgestattet, nicht das Recht dazu. Im Gefängnis wurde ihm das vermutlich verwehrt. Doch nachdem er, wie im letzten Wochenabschnitt geschildert, das hohe Amt des Vizepharaos erhalten hatte, hätte er bestimmt die Gelegenheit dazu gehabt. Aber er hat sie nicht wahrgenommen. Warum nicht?

Diese Frage stellt Nachmanides, der Ramban (1194–1270), und gibt eine erstaunliche Antwort: Josef wollte, dass in Erfüllung geht, was er in seiner Jugend geträumt hatte, und musste deshalb veranlassen, dass die Familie ihm unerkannt begegnen würde.

träume Rabbi Jizchak Arama, der Baal Akedat Jizchak (1420–1494), ist mit dieser Antwort absolut nicht einverstanden: Ist es denn des Menschen Aufgabe, seine Träume in Erfüllung zu bringen? Genauso wie diese von G’tt gesandt sind, liegt es auch an Ihm, sie wahr werden zu lassen. Bestimmt konnte das nicht ein Grund sein, den Vater weitere lange Jahre grausam der tiefen Trauer um den verloren geglaubten Sohn zu überlassen und gleichzeitig das Gebot, den Vater zu ehren, nicht zu befolgen. Wie es aussieht, war eine ganz andere Überlegung Grund des Schweigens.

Josef wusste: Wenn er seinen Vater über seine Existenz benachrichtigen würde, würden sich nach anfänglicher Freude schnell unangenehme Fragen darüber ergeben, was vorgefallen ist. Bald würde sich herausstellen, dass die Brüder ihn in die Sklaverei verkauft hatten. Wenn diese Wahrheit ans Licht käme, würden sie nicht mehr mit ihrem Vater unter einem Dach leben können! Auch wenn Jakow imstande wäre, ihnen zu verzeihen, und sie nicht im Zorn davonjagte, könnten sie dennoch ihrem Vater vor Scham nicht mehr ins Gesicht blicken. Die zur Volkswerdung bestimmte Familie Jisrael würde noch vor ihrer Entstehung zerbrechen.

Dies konnte Josef nicht zulassen. So schmerzlich die Entscheidung auch war, weitere Jahre der Trennung von seinem Vater und der Familie hinzunehmen und sie im Unwissen zu lassen, so war es doch unumgänglich, um die Vereinigung der Familie herbeiführen zu können, indem die Brüder zuerst die Gelegenheit erhalten sollten, Reue für das damals Geschehene zu zeigen. Erst damit ist der Grundstein für die Volkswerdung gelegt: mit dem Verständnis, dass die Zusammengehörigkeit und Einheit der Brüder, der Familie Israel, zur Grundlage für die weiteren Geschehnisse werde. Selbst wenn diese nur mit persönlichen Kompromissen und unter großer Opferbereitschaft erreicht werden kann.

GEFÄNGNIS Doch wie hat Josef es geschafft, über diesen ganzen Zeitraum hinweg der Lebensweise seines Vaterhauses treu zu bleiben? Dazu noch unter solch schwierigen Umständen? War sein Weg doch mit Schwierigkeiten nur so gepflastert: Zunächst als Sklave nach Ägypten verkauft, wurde er auch noch ins Gefängnis geworfen. Und das nicht aufgrund eines Fehlverhaltens, sondern, ganz im Gegenteil, wegen seiner höchst moralischen Entscheidung, sich nicht auf die Verführungen seiner Dienstherrin einzulassen. Und das, nachdem er sich jahrelang zum aufsichtshabenden Vertrauenssklaven am Hof mit besonderen Freiheiten hochgearbeitet hatte! Dennoch musste er ein jahrelanges Dasein in einem dunklen Verlies fristen.

Dies wäre wirklich ein Grund zum Verzweifeln gewesen. Doch nicht für Josef. Er bleibt selbst in dieser Lage frohsinnig. Wie schaffte er das? Wieso verzehrte er sich nicht in Selbstmitleid und Wut über sein ärgerliches Schicksal?

Der Talmud (Sota 36b) schildert, dass es Josef gelang, der Verführung der Frau Potiphars, seines Dienstherrn, standzuhal­ten, weil ihm im kritischen Moment die Gestalt seines Vaters Jakow am Fenster erschien und zu ihm sprach: »Josef, in Zukunft werden die Namen deiner Brüder in den Edelsteinen des Brustschilds des Hohepriesters eingraviert sein, und deiner unter ihnen. Ist es dein Wille, dass dein Name unter diesen ausgemerzt wird?«

bewusstsein Selbstverständlich handelte es sich nicht physisch um seinen Vater, der von seiner Existenz zu jenem Zeitpunkt ja noch nichts wusste, sondern um den Eindruck, den er in Josefs Leben hinterließ. Und um das bedeutungsvolle überdauernde Bewusstsein um seine Aufgabe in der Geschichte des Volkes Israel.

Josef blieb sich, seiner Herkunft und seiner Bestimmung treu. Daraus schöpfte er Kraft und Energie. Er ließ auch in der Dunkelheit des Gefängnisses sein inneres Licht scheinen, und mit G’ttvertrauen erhielt er das Wohlwollen seiner Umgebung, und mit ihm jeder, der den Blick in die Weite richtet und seinen eigenen Platz darin erkennt. Mit den Worten Rabbi Nachmans von Bratzlaw: Es gibt niemals Grund zum Verzweifeln.

Mit Josef vollzieht auch die Geschichte eine wunderbare Wendung. Nicht nur, dass er vom gefangenen Sklaven zum Vizepharao aufsteigt – darüber hinaus lernt und lehrt er aus der Geschichte. Dies lässt sich schon an den ersten und großen Worten ablesen, die Josef an seine Brüder richtet, während er sich ihnen zu erkennen gibt: »Und Josef sprach zu seinen Brüdern: Tretet näher! Ich bin euer Bruder Josef, den ihr nach Ägypten verkauft habt. Und nun, seid nicht traurig und verdrossen darüber, dass ihr mich verkauft habt« (1. Buch Mose 45, 4–5).

versöhnung Er lässt nicht mehr zu, dass Bruderhass die Familie entzweien und auseinanderreißen wird. Auf vergangenen Hass ist seine Antwort künftige Liebe. Welches ist Josefs Quelle für diese unendliche Bereitschaft zur Versöhnung mit seinen Brüdern, dass er sie sogar ohne Gelegenheit zur weiteren Bestürzung direkt beruhigt?

Es ist das Vertrauen in G’tt, dass die Dinge sich zum Guten wenden und entwickeln, wie Josef selbst betont: »… denn zur Lebenserhaltung hat G’tt mich vor euch hergesandt«. Es lohnt sich, dem Lauf der Dinge dieses Vertrauen zu schenken und dementsprechend Entscheidungen zu fällen.

Der Autor ist Oberrabbiner der Israelitischen Kultusgemeinde Wien.

inhalt
Der Wochenabschnitt Wajigasch erzählt davon, wie Jehuda darum bittet, anstelle seines jüngsten Bruders Benjamin in die Knechtschaft zu gehen. Später gibt sich Josef seinen Brüdern zu erkennen und versöhnt sich mit ihnen. Der Pharao lädt Josefs Familie ein, nach Ägypten zu kommen, um »vom Fett des Landes zu zehren«. Jakow erfährt, dass sein Sohn noch lebt, und zieht nach Ägypten. Der Pharao trifft Jakow und gestattet Josefs Familie, sich in Goschen niederzulassen. Josef vergrößert die Macht des Pharaos, indem er die Bevölkerung mit Korn versorgt.
1. Buch Mose 44,18 – 47,27

Chabad

Gruppenfoto mit 6500 Rabbinern

Tausende Rabbiner haben sich in New York zu ihrer alljährlichen Konferenz getroffen. Einer von ihnen aber fehlte

 02.12.2024

Toldot

Jäger und Kämpfer

Warum Jizchak seinen Sohn Esaw und nicht dessen Bruder Jakow segnen wollte

von Rabbiner Bryan Weisz  29.11.2024

Talmudisches

Elf Richtlinien

Wie unsere Weisen Psalm 15 auslegten

von Yizhak Ahren  29.11.2024

Ethik

»Freue dich nicht, wenn dein Feind fällt«

Manche Israelis feiern auf den Straßen, wenn Terroristenführer getötet werden. Doch es gibt rabbinische Auslegungen, die jene Freude über den Tod von Feinden kritisch sehen

von Rabbiner Dovid Gernetz  29.11.2024

Potsdam

In der Tradition des liberalen deutschen Judentums

Die Nathan Peter Levinson Stiftung erinnerte an ihren Namensgeber

 28.11.2024

Kalender

Der unbekannte Feiertag

Oft heißt es, im Monat Cheschwan gebe es keine religiösen Feste – das gilt aber nicht für die äthiopischen Juden. Sie feiern Sigd

von Mascha Malburg  28.11.2024

Berlin

Spendenkampagne für House of One startet

Unter dem Dach des House of One sollen künftig eine Kirche, eine Synagoge und eine Moschee Platz finden

von Bettina Gabbe, Jens Büttner  25.11.2024

Chaje Sara

Handeln für Generationen

Was ein Grundstückskauf und eine Eheanbahnung mit der Bindung zum Heiligen Land zu tun haben

von Rabbiner Joel Berger  22.11.2024

Talmudisches

Elefant

Was unsere Weisen über die Dickhäuter lehrten

von Rabbiner Netanel Olhoeft  22.11.2024