Suppe, Brot und Wein hat der Prophet zurechtgemacht. Gerade ist er damit auf dem Weg zum Feld, um das Essen den Schnittern zu bringen, die dort arbeiten, aber er kommt nicht weit. Ein Engel hält ihn unterwegs auf und beschlagnahmt die Lebensmittel: Dem Daniel solle er sie bringen, der in Babylon in der Löwengrube sitzt. Jede Widerrede ist zwecklos; der göttliche Bote packt den Angesprochenen zwar nicht am Kragen, aber im Wortsinne am Schopf, und ehe der sich versieht, ist er auch schon am Ziel der Reise und kann seine Bestellung ausliefern.
In Babylon verschafft sie einem hungrigen Daniel, der bereits sechs Tage in der Gegenwart von nicht minder hungrigen Löwen zugebracht hat, nicht nur Sättigung, sie dient ihm zugleich auch zur Bestätigung, dass seine fromme Unbeugsamkeit und sein mutiges Ausharren nicht vergebens waren: »Fürwahr, es hat Gott der Herr meiner gedacht, der nicht im Stich lässt, die ihn lieben.«
Der Prophet, der anschließend auf gleichem Wege die Rückreise antritt, ist Habakuk. Quer durch die Geschichte christlicher Kunst war die Episode von seiner kurzen Begegnung mit Daniel in Babylon ein beliebtes Sujet: hier Habakuk mit Henkelmann und Brotbeutel an der starken Hand des Engels baumelnd, dort Daniel, umgeben von je nach Epoche mehr oder weniger grimmig dreinblickenden Löwen, der beider Ankunft freudig erwartungsvoll entgegenblickt.
Legende Im biblischen Buch, das den Namen des Propheten Habakuk trägt, ist diese Legende freilich nicht zu finden. Und auch nicht im Buch Daniel – zumindest nicht in der Fassung, die Bestandteil des Tanach ist. Es zählt zu den apokryphen »Stücken zu Daniel«, die auf Griechisch in der Septuaginta erhalten und enthalten sind, aber nicht in aramäischer oder hebräischer Fassung in den Kanon der Masoreten aufgenommen wurden.
Sie gehört in die Legendensammlung von »Bel und dem Drachen«, die von (weiteren) Abenteuern Daniels am babylonischen Königshof berichtet. Wie in den aramäischen Daniel-Legenden der Hebräischen Bibel, so hat auch in ihnen Daniels Frömmigkeit zur Folge, dass er in die berühmte Löwengrube geworfen wird – und ein vermutlich sekundärer Einschub darin weiß nun von seiner Versorgung mit Lebensmitteln.
Wer immer diese kurze Legende einfügte – warum wählte er (oder, weniger wahrscheinlich, sie) für diese Aufgabe ausgerechnet Habakuk aus? Die einfachste Erklärung läge in der passenden Datierung: Habakuk wäre einfach der Prophet gewesen, der zum Setting Daniels am besten gepasst hätte. Dieser Gedanke verdient eine Überprüfung. Die Geschichten um Daniel spielen nach den biblischen Angaben im sechsten Jahrhundert, Dan. 6, die Löwengrube nennt einen gewissen »Dareios, den Meder«, von dem nicht ganz klar ist, ob damit der persische Dareios I (549–486 v.d.Z.) oder ein von Kyros eingesetzter Statthalter etwa zur gleichen Zeit gemeint ist. »Bel und der Drache« hat in der ältesten Überlieferung keinen eigenen Datierungshinweis, wird aber wohl die gleiche Zeit im Blick haben.
Zeit Habakuks Datierung ist problematischer. Anders als dies bei anderen Prophetenbüchern der Fall ist, findet sich in den auf drei Kapitel verteilten 56 Versen keine einzige der üblichen zeitlichen Einordnungen nach einem der Könige Israels und Juda. Gleichwohl hatten diejenigen, die seine Schrift in das Zwölfprophetenbuch zwischen Nachum und Zefanja eingeordnet haben, zumindest eine ungefähre Vorstellung: Das Zwölfprophetenbuch, Tre Asar, ist mehr oder weniger chronologisch angeordnet – und von seinen Nachbarn her zu urteilen, soll Habakuk wohl in das späte siebte und frühe sechste Jahrhundert gehören.
Diese Einordnung verdankt er vermutlich dem Umstand, dass in Hab. 1,6 ein bedrohlich heraneilendes fremdes Volk »Kasdim« genannt wird, »Chaldäer« – die biblische Bezeichnung für die Babylonier. Ungefähr also passt der literarische Habakuk zeitlich zum literarischen Daniel, wenngleich er zum angenommenen Zeitpunkt seiner Entrückung schon gute 70 Jahre im prophetischen Geschäft tätig gewesen sein müsste. Andere aus der Reihe prophetischer Gestalten hätten daher das Anforderungsprofil weit besser erfüllt, wäre es vorrangig um die Datierung gegangen – zuallererst Ezechiel, dem noch dazu Entrückungsreisen zwischen Eretz Israel und Babylon nicht unvertraut gewesen wären.
Der Grund, ihn mit Daniel in Verbindung zu bringen, liegt also eher nicht in einem fiktiven »historischen« Habakuk, von dem man auch in der Antike nichts wusste außer, wie es Lothar Perlitt formulierte, »seinem eher komischen Namen und dem Titel Prophet«. Der Grund ist an anderer Stelle zu suchen: in dem mit diesem »eher komischen Namen« überschriebenen Buch.
Dieses Prophetenbuch wirkt zunächst mehr wie die Klage eines Weisen als die Botschaft eines Propheten. Sein Sprecher klagt darüber, dass die »Weisung«, die Tora, kraftlos geworden sei, was sich nicht zuletzt dadurch äußere, dass der Gerechte (Zaddik) leiden müsse, während es dem ihn unterdrückenden Frevler (Rascha) wohlergehe. Damit verschmolzen ist die Beschreibung eines heranstürmenden fremden und feindlichen Volkes, nach 1,6 eben der »Babylonier«. Unterdrückung des Einzelnen durch den Frevler und Unterdrückung Israels durch die Völker fließen ineinander – und Grund beider ist die vermeintliche »Schwäche« der Tora. »Wie lange noch?« – mit diesem Aufschrei setzt das Buch ein; dabei ist er zugleich so etwas wie seine Quintessenz.
Klage Habakuk klagt vor Gott, und er klagt Gott an. Darin ist er Hiob nicht unähnlich, und wie bei Hiob, so bleibt auch seine Klage nicht unbeantwortet. Zu Beginn von Kapitel zwei steigt der Prophet auf einen »Turm«, um auf Gottes Erwiderung zu warten. Sie bleibt nicht aus und ergeht als ein Auftrag: Habakuk soll etwas – deutlich – auf Tafeln aufschreiben. Die Parallele zum Empfang der Tora auf dem Sinai durch Mose ist gewiss nicht zufällig.
Der Klage über die scheinbare Kraftlosigkeit der Tora wird mit einer Reminiszenz an den Sinai geantwortet: Sie ist und bleibt als Ordnung der Welt gültig, auch gegen den aktuellen Augenschein, bis der festgesetzte Augenblick, Moed, gekommen ist: »Wenn es sich verzögert, so warte darauf, denn es wird gewiss kommen, nicht bleibt es aus« (2,3). Was sich letztendlich doch noch bestätigen wird, das sagt der folgende Vers in Form eines Gegensatzpaares, von dem der Text der ersten Hälfte leider nicht mehr genau zu rekonstruieren ist: »(...) der Gerechte aber wird durch seine Treue / seine Standhaftigkeit / seinen Glauben (beemunato) leben«.
Dieser Vers ist der Kern des Buches Habakuk. In den folgenden Versen wird er in der Form von fünf Weherufen ausgeführt, und Kapitel drei, wahrscheinlich ein späterer Zusatz, besingt in der Form eines Psalms schließlich das Erscheinen Gottes am »Tag der Bedrängnis« (3,16), als welcher der »festgesetzte Zeitpunkt« offenbar verstanden wird, der für die unterdrückten Gerechten der Tag der Befreiung sein wird. Heißt die Antwort Gottes auf Hiobs Klage bekanntlich: »Es gibt eine Ordnung in der Welt; sie ist aber zu hoch für das menschliche Erkenntnisvermögen«, so lautet sie im Falle Habakuks: »Es gibt eine Ordnung in der Welt; sie wird am festgesetzten Zeitpunkt offenbar werden.« Bis dahin gilt es auszuhalten und in der Standhaftigkeit nicht nachzulassen – gewissermaßen: »Keep calm and carry on.«
Axiom Was hat das mit Daniel zu tun? Der Daniel der aramäischen Erzählungen von Dan. 2,6, der Daniel in der Löwengrube, ist ein Musterbeispiel für das Axiom von Hab. 2,4. Er leidet aufgrund seiner Standhaftigkeit, seiner Emunah, aber am siebten Tag widerfährt ihm Rettung, und der fremde König bekehrt sich auch noch zum Monotheismus. Dieser Daniel brauchte eigentlich keinen Habakuk, der ihn unterstützte. Eher hätte er mit seinen Erfahrungen Speise für den klagenden Propheten zu bieten. Auch der Daniel der älteren Überlieferungsstufen der Visionen in Dan. 7, 8, 10 und 12 kommt ohne Habakuk aus.
Er vermag als Weiser und dank göttlicher Unterstützung die Ordnung der Weltgeschichte, die dem klagenden Habakuk ja verschlossen ist, hinter dem Geheimnis des Traumbildes zu erkennen. Anders ist dies jedoch beim Daniel des Gebets von Dan. 9. Er versteht den Sinn der heiligen Schrift nicht mehr. Die 70 Jahre, die im Jeremiabuch als Zeit des Gerichts über Juda angesagt werden, sind seiner Rechnung nach längst vorbei – aber von einer heilvollen Wende der Geschichte spürt er nichts. Dieser Daniel ist Habakuk ein Bruder im Geiste, dem Habakuk, der über die fortdauernde Unterdrückung durch Frevler wie durch Fremdvölker klagt. Beide plagt die gleiche Frage: Wie lange noch? Und beide erhalten eine ähnliche Antwort: Bis zum festgesetzten Zeitpunkt. Beide teilen einen unverkennbaren Zug in Richtung Apokalyptik.
Speise Diesem Daniel hat Habakuk etwas als »Speise« anzubieten, nämlich sein Buch, die Tafeln, auf jeden Fall die Botschaft: »Der Gerechte wird durch seine Beständigkeit leben«. Das ist die Speise, mit der er ihn in der Löwengrube kräftigt – ihn und alle, die sich als leidende und verfolgte Gerechte mit ihm identifizieren konnten. »Und Habakuk sprach zu Daniel: Steh auf, iss die Mahlzeit, die dir Gott der Herr geschickt hat. Und Daniel sagte: Fürwahr, es hat Gott der Herr meiner gedacht, der nicht im Stich lässt, die ihn lieben.« Dieser Satz ist, so gesehen, nichts anderes als eine Auslegung des Axioms von Hab. 2,4: »Beständigkeit«, Emunah, das heißt nach diesem kleinen Midrasch: »Gott lieben«.
Nach dem Verfasser der kleinen Legende von Daniel und Habakuk haben noch viele von Hab. 2,4 gekostet und seiner Suppe ihre je eigenen Zutaten und Gewürze beigemischt. Das Haupt der Gruppe von Qumran, der »Lehrer der Gerechtigkeit«, gehört dazu, ebenso wie Rabbi Nahman bar Jizchaq nach dem babylonischen Talmud (Makkoth 24a). Sie verstanden »Beständigkeit« je eigen – und sicherlich noch einmal anders als der Autor des kleinen Prophetenbüchleins, den wir unter dem »eher komischen Namen« Habakuk kennen. Bis zum »festgesetzten Zeitpunkt« werden sein Rezept und sein Geschmack Gegenstand der Diskussion bleiben; davon zu löffeln lohnt sich allemal.