»Und das ganze Volk sagte einmütig: Alles, was der Ewige gesagt hat, wollen wir tun!« So rief das Volk wie aus einem Mund Mosche zu, als dieser ihnen von dem Bund berichtet hatte, den der Ewige mit ihnen schließen wollte. Dabei hatten sie doch noch gar nicht gehört, was dieser Bund alles beinhaltete oder mit sich brachte. Und trotzdem riefen sie: »Alles, was der Ewige sagt, wollen wir tun!«
War das nicht ein wenig voreilig? Wer stimmt denn einem Vertrag zu, noch dazu einem mit einer solchen Tragweite, ohne dass er genau den Inhalt kennt? Informiert man sich nicht vorher darüber, was da von einem verlangt wird? Tatsächlich wird sich auch bald zeigen, dass das Volk ein Gebot nach dem anderen missachtet. Weshalb also diese übereilte Annahme des Bundes?
Ein bekannter Midrasch berichtet, dass der Ewige die Tora zunächst anderen Völkern angeboten hatte. So ging Er zu den Nachkommen von Esaw, zu den Ammonitern und auch zu den Jischmaeliten. Aber alle Völker, zu denen Er kam, hakten genau nach. Und weil sie mit dem einen oder anderen Gebot ein Problem hatten, lehnten sie es ab, die Tora anzunehmen. Ganz zuletzt kam der Ewige schließlich zu den Bnei Israel, den Kindern Israels. Und die riefen, ohne eine einzige Frage zu stellen: »Alles, was der Ewige gesprochen hat, wollen wir tun!«
Dieser Midrasch ist allerdings nicht ganz unproblematisch. Zum einen, weil er gewisse Vorurteile bedient gegenüber den einstigen Feinden der Israeliten. Zum anderen muss dem Ewigen doch bekannt gewesen sein, dass die anderen Völker ablehnen und nur die Bnei Israel bereitwillig zustimmen – ebenso die Tatsache, dass sie die meisten Gebote anschließend gleich wieder brechen werden.
Ablehnende Antworten
Dies lässt auf den ersten Blick die negativen Antworten der anderen Völker viel ehrlicher erscheinen als die Reaktion der Kinder Israels. Warum hatte der Ewige all die Mühe auf sich genommen, um dann von den Ammonitern oder den Jischmaeliten ablehnende Antworten zu bekommen? Wollte Er den Israeliten dadurch vielleicht mehr Bedenkzeit geben, um eine unreflektierte Annahme der Tora zu vermeiden?
Der Midrasch geht offenbar davon aus, dass die Zustimmung der Bnei Israel auf einer Mischung aus Begeisterung und Enthusiasmus basierte und sie »beglückt ihre Bereitwilligkeit aussprachen, in Gottes Bund einzutreten«, wie Rabbiner Joseph Hertz (1872–1946) in seinem Kommentar schreibt.
Aber war dies wirklich der Fall? Oder könnte es vielleicht einen ganz anderen Grund gegeben haben? Die Tora berichtet uns von den Rahmenbedingungen, unter denen der Bund damals geschlossen wurde. So sei der Berg hermetisch abgeriegelt worden, damit niemand unbefugt hinaufsteigen konnte. Die Menschen im Lager nahe des Berges bereiteten sich auf Mosches Anweisung hin sowohl innerlich als auch äußerlich auf das große Ereignis vor: »Und es geschah am dritten Tag, als es Morgen war.« Der Berg bebte und rauchte, ein gewaltiges Gewitter tobte um ihn, und zudem war der immer lauter und stärker werdende Klang der Hörner zu vernehmen.
Mosche hatte die Israeliten aus dem Lager geführt an den Fuß des Berges. Dort erfasste sie tiefe Furcht. »Sie wankten zurück und standen von ferne.« Mosche aber stieg auf den Berg, und sie hörten, dass er mit dem Ewigen sprach, der ihm aus der Feuerwolke heraus mit einer Stimme (hebräisch »beKol«) antwortete. Dass sie die Stimme des Ewigen vernehmen konnten, erschreckte sie womöglich am meisten. Denn anschließend forderten sie Mosche auf: Rede du mit uns, und wir wollen hören, nur rede nicht Gʼtt mit uns, dass wir nicht sterben.
Todesangst und Schrecken
Todesangst und Schrecken müssen die Bnei Israel erfasst haben. Wie sollen sie in diesem Moment begreifen und darüber nachdenken, was der Ewige ihnen gerade verkündet hat? So schicken sie Mosche vor, der furchtlos den bebenden, rauchenden Berg hinaufsteigt und mit dem Ewigen spricht.
Warum gestaltet der Ewige das Ganze so dramatisch? Zweimal lesen wir in unserer Parascha, dass die Bnei Israel ausrufen, sie würden alles tun, was der Ewige ihnen sage, und zwar einmal vor der Beschreibung der eigentlichen Verkündigung der Aseret Hadibrot (Zehn Gebote) und einmal danach. Ob es sich dabei um ein und dieselbe Situation handelte, wie manche Auslegung besagt, mag offen bleiben.
Auf jeden Fall klingt die Antwort der Israeliten beim zweiten Mal deutlich erschrockener. Aber hatten sie nicht mit eigenen Augen sehen können, was der Ewige an den Ägyptern getan hatte? Und konnten sie danach nicht unbehelligt durch das Schilfmeer ziehen? Dennoch scheint all das auf sie noch nicht genug Eindruck gemacht zu haben. Immer wieder kommt es unter den Israeliten zu Auseinandersetzungen, ja sogar zu Angriffen gegen Mosche. Dieser verbringt den größten Teil seiner Zeit damit, Streitigkeiten zu schlichten und die Wogen zu glätten.
Von seinem Schwiegervater Jitro wird Mosche ermahnt, dass es so nicht weitergehen kann. Er brauche dringend Unterstützung. Aber die Ernennung weiterer Verantwortlicher allein ist unzureichend. Denn jede Form der Rechtsprechung bedarf einer bindenden gesetzlichen Grundlage. Ferner benötigt sie eine vertrauenswürdige oberste Instanz. Als der Ewige dem Volk am Sinai die Tora gab, verkündete Er dieses verbindliche Gesetz und stärkte gleichzeitig das Vertrauen in Mosches Autorität, »damit das Volk höre, wenn Ich mit dir rede und auch dir auf immer vertraue«.
Der Ewige will keine Furcht, sondern Ehrfurcht. Den Unterschied zwischen beiden Begriffen werden die Kinder Israels erst im Laufe der Zeit erkennen. Ebenfalls werden sie lernen, dass das Studieren der Tora dem Befolgen der Gebote vorangehen muss. Blinder Gehorsam allein schadet – auch ist so eine Haltung vom Ewigen nicht gewollt. Er will von uns ganz gewiss nicht, dass wir wie Maschinen Seine Gebote erfüllen.
Vielmehr sollen wir den ehrlichen Willen haben, das Joch der Tora auf uns zu nehmen. Zunächst aber sollen wir erst einmal lernen und verstehen, was ihr wirklicher Inhalt, ihre wirkliche Bedeutung ist, um sie dann auch richtig halten zu können. Es heißt nicht umsonst, »ein Ungebildeter kann nicht gottesfürchtig sein«. Lernen erfordert Zeit. Es gibt gute Gründe, warum uns die Tora auf einem Berg gegeben wurde – schließlich braucht es Zeit, einen solchen zu besteigen.
Die Autorin ist Rabbinerin der Liberalen Jüdischen Gemeinde Mischkan ha-Tfila Bamberg und Mitglied der Allgemeinen Rabbinerkonferenz (ARK).
INHALT
Die Tora stellt Mosches Schwiegervater, den midjanitischen Priester Jitro, als religiösen und weisen Menschen dar. Er rät Mosche, Richter zu ernennen, um das Volk besser zu führen. Die Kinder Israels lagern am Fuß des Berges Sinai und müssen sich drei Tage lang vorbereiten. Dann senkt sich Gottes Gegenwart über die Spitze des Berges, und Mosche steigt hinauf, um die Tora zu empfangen.
2. Buch Mose 18,1 – 20,23