Konzentriert bei der Sache bleiben, zuhören, nicht abschweifen: Im Alltag wird dies zunehmend zu einer Herausforderung. Mitten im Gespräch starren wir auf unsere Smartphones, um E-Mails, Nachrichten oder WhatsApp-Mitteilungen zu checken. Den Stress, den das verursacht, kompensieren manche von uns durch Yoga, andere schwören auf Achtsamkeitstraining oder Meditation.
Keine Frage: All das kann helfen. Doch mein persönlicher Rat als Rabbiner ist ein anderer: Versuchen Sie es doch einmal mit dem Amida-Gebet! Die Amida (wörtlich für: stehend), auch bekannt als Achtzehnbittengebet, gibt einem jüdischen Menschen die Möglichkeit, mit G’tt in Kontakt zu treten und sich gleichzeitig zu konzentrieren.
Segenssprüche Die Amida ist im G’ttesdienst und im Judentum überhaupt von zentraler Bedeutung. Dort finden wir Segenssprüche und Gebete, die alle Aspekte unseres Lebens betreffen: G’tt und der Mensch, unsere Freunde und wir, die Bedürfnisse der Gesellschaft und der Natur.
All das kommt in der Amida vor, und wenn ich es nicht dreimal am Tag schaffe, mich auf dieses Gebet zu konzentrieren, dann weiß ich, dass ich ein Problem habe. Leider muss ich sagen: Das passiert auch mir fast jeden Tag. Man schafft es selten, das Amida-Gebet mit voller Konzentration durchzuhalten, weil man noch vieles andere im Kopf hat.
Unter Juden, die regelmäßig die Amida beten, ist das Phänomen durchaus bekannt: Nach den drei Schritten, die man macht und sich dabei vorstellt: »Jetzt fange ich mit dem Gebet an«, beginnt man schon, mit den Gedanken abzuschweifen, und auf einmal landet man bei »Osse Schalom« (»der den Frieden bringt«) oder bei einer anderen Stelle.
Und dann fragt man sich: Was habe ich eigentlich in den letzten Minuten gemacht? Aber genau das ist eine wunderbare Herausforderung für einen jüdischen Menschen, Konzentration zu üben.
»Kawana« ist ein Begriff, den wir ursprünglich auf das Gebet anwenden: mit voller Absicht, aus vollem Herzen beten. Doch wenn Kawana auch bedeutet, sich im Alltag auf etwas zu konzentrieren und bei der Sache zu bleiben, dann muss man das sein ganzes Leben lang praktizieren. Man sollte auf jeden Fall offen sein für alles, was in der Welt passiert, aber man sollte auch zielstrebig sein und wissen, was das Ziel ist, das man persönlich erreichen möchte.
Pferd Das heißt nicht, dass wir ständig wie ein Pferd mit Scheuklappen durch die Welt gehen sollten – sondern nur dann, wenn wir uns nicht ablenken lassen wollen. Aber wenn wir schon mit einer bestimmten Sache beschäftigt sind, sollten wir uns auch darauf konzentrieren und versuchen, das Beste daraus zu ziehen und das Beste zu geben. So verstehe ich Kawana im Alltag.
Wenn man einen anstrengenden Job und viel zu tun hat, ist das nicht immer einfach. Man muss lernen, zu unterscheiden, was wichtig ist – und was noch wichtiger ist. Prinzipiell ist wichtig, was die Welt voranbringt. Im Alltag ist eher wichtig, was meine Frau mir sagt, oder manchmal auch der Chef. Je nach Lebensbereich muss man wissen, wie man die Prioritäten und Parameter setzt. Und dabei muss ich mir immer sagen: Was wichtig ist, ist das, was auch mir wichtig ist – solange es nicht einer positiven Einstellung zur Welt an sich widerspricht.
Es gibt einen wunderbaren Satz des Rabbiners und Philosophen Jehuda Halevi: Wenn jemand ein gutes Geschäft machen und dadurch auch viel Zedaka üben kann, dann ist es besser, er macht das Geschäft, als eine andere Mizwa zu tun, weil er so seine Kräfte am besten einsetzen kann. Ein großer Teil der Arbeit, die man im Leben leistet, ist, wirklich zu erkennen, wie man nicht abschweift und am Ball bleibt.
To-do-Listen Als Rabbiner mit einer großen Familie komme ich natürlich nicht ohne Zettel und To-do-Listen klar. Es gibt alle möglichen Techniken, die ich nutze, um meine Ziele nicht aus den Augen zu verlieren. Aber wenn es um die geistige Ebene geht, kenne ich keinen besseren Weg als die Konzentration auf das Amida-Gebet.
Oft stelle ich mir auch die Frage: Was möchte G’tt jetzt von mir? Was ist sein Wille? Ich möchte essen, trinken, schlafen, spazieren gehen oder Geld verdienen. Aber wer steht eigentlich im Mittelpunkt? Stelle ich mich selbst in den Mittelpunkt, meine eigenen Bedürfnisse, oder sehe ich mich als jemanden, der der Welt etwas Gutes geben soll?
Es spricht nichts dagegen, zu meditieren, um mit G’tt in Kontakt zu kommen. Aber die Amida ist auch eine Art von Meditation. Man bleibt ruhig, man wiederholt immer die gleiche Art von Texten, man versucht immer wieder, die gleiche Ruhe zu gewinnen. Für mich ist das eine Art von Meditation und Prüfung.
Die Bratzlawer Chassidim sagen: Gehe einfach nachts in den Wald und sprich mit G’tt. Ich mache das jeden Tag, aber ich brauche dazu nicht in den Wald zu gehen! Mir reichen zwei Minuten Ruhe aus. Wir müssen mit G’tt sprechen, weil wir so in Kontakt mit unserer Seele kommen. Mein Arzt sagt mir immer: Du musst auf deinen Körper hören. Natürlich hat er recht! Aber ich sage dazu, ich muss auch auf meine Seele hören.
Whatsapp Ich nutze gerne mein Smartphone, schreibe SMS und Whats-App-Mitteilungen. Ich habe kein Problem mit all diesen Kommunikationsmöglichkeiten, aber die Frage ist: Weiß ich auch, wozu ich das nutze?
Das Schlimmste, was einem passieren kann, sind Spam-E-Mails. Und da muss der Mensch einfach wissen, wo seine Grenze ist, und was er wie sortiert. Wenn ich mit Konzentration vorgehe, meine E-Mails sortiere, entscheide, was ich schreibe, wo ich nur ein Smiley schicke und was ich einfach ignoriere, wenn ich also weiß, wie ich damit umgehe – wunderbar. Aber wenn ich mit Menschen zusammensitze, und mein Kopf ist nicht bei ihnen, sondern bei meinem Smartphone, also in dem Moment, wo ich nicht mehr richtig mit Menschen kommunizieren kann, dann habe ich etwas falsch gemacht.
Ich bin alt genug, um zu sagen: Manchmal muss ich mein Handy einfach ausschalten. Man muss wissen, wann man eine Pause oder Auszeit braucht, sei es im Urlaub oder im G’ttesdienst. Wenn Menschen mit dem Smartphone in die Synagoge kommen und einander WhatsApp-Nachrichten schicken, während Psalmen gelesen werden, ist das genau das Gegenteil von Gebet – und definitiv die falsche Art von Kommunikation an diesem Ort.
Auch ein Smiley ist oft nicht genug – man muss Freunde in der Realität treffen. Und ein Kuss, den ich meiner Frau über WhatsApp schicke, ist eine nette Geste, reicht aber nicht. Ich muss meiner Frau auch zu Hause mit meinen eigenen Worten sagen: Ich liebe dich!
Elektronische Kommunikation hat zwei Seiten. Einmal die »billige« Seite, wenn ich weiß: Ich habe das schon erledigt, ich habe zum Beispiel jemanden per WhatsApp um Entschuldigung gebeten. Aber es gibt auch Vorteile: Ich habe jemandem einen guten Tag gewünscht und ihm etwas Positives geschickt. Manchmal ist das besser, als gar nicht zu reagieren.
Stimmung Alles hat seine Zeit, steht im Buch Kohelet. Nur sind wir so oft abgelenkt, dass wir nicht mehr wissen, wann wir welche Zeit wofür haben. Schon unsere Weisen kannten das Problem der Ablenkung beim Beten und riefen den Menschen dazu auf, sich gut auf das Gebet vorzubereiten.
Wie man die richtigen Bedingungen dafür schafft, lesen wir in der Mischna: »Man erhebe sich zum Beten erst aus ernster Stimmung.« Man soll also nicht einfach so in das Gebet »rutschen«, sondern sich ernsthaft einstimmen. Man sollte wissen, warum und wofür man betet, aber am wichtigsten ist es, zu wissen, zu wem man betet.
Was bedeutet: »Diene Ihm mit deinem ganzen Herzen?«, fragt das Sefer Hamizwot Katan. Die Antwort lautet: jeden Tag mit Kawana – mit absichtsvoller Aufmerksamkeit – zu beten. Und wenn das Herz versteht, was wir beten, dann dienen wir G’tt aus ganzem Herzen.
»Die früheren Frommen pflegten eine Stunde zu verweilen und dann erst zu beten, um zuvor ihren Sinn auf Haschem zu richten«, sagt die Mischna im Traktat Brachot 5,1. Doch so einfach es ist nicht. Denn der Mensch hat so vieles in seinem Kopf: Alles, was er sieht, was er gelesen hat, und alles, woran er denkt, kommt ihm plötzlich während des Gebets in den Sinn. Daher sollte man sich gezielt darauf vorbereiten.
Ein Gebet ohne Achtsamkeit ist wie ein Körper ohne Seele. Man spricht die richtigen Worte, aber was bedeuten sie? Erst die Kawana schenkt ihnen Bedeutung. Der Schulchan Aruch gibt uns einige Tipps, was wir tun können, wenn unsere Aufmerksamkeit beim Gebet abschweift. Wenn andere Gedanken sich vordrängen, sollte man im Gebet innehalten und erst weiterbeten, nachdem sie vorübergezogen sind. Deshalb sollte man auch an einem Ort beten, an dem man nicht abgelenkt wird.
Schalom Alechem Und trotzdem kann jeden Tag passieren, wovon die folgende Geschichte erzählt: Ein Jude dawnet die Amida. Er wiegt sich hin und her, am Ende geht er wie üblich drei Schritte zurück. Sein Rabbiner läuft zu ihm hin und begrüßt ihn mit »Schalom Alechem!«. Der Beter wundert sich: »Ich war doch die ganze Zeit schon hier«, sagt er.
»Nu ja«, erwidert der Rabbiner. »Wirklich? Heutzutage beginnt man das Gebet in der Synagoge und beendet es auch in der Synagoge. Aber in der Zwischenzeit ist man bei seiner Familie, im Geschäft, im Urlaub oder sonst wo – nur nicht beim Gebet …«
Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Frankfurt am Main und Vorstandsmitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz.
Amida
Die Amida, bekannt als Achtzehnbittengebet, ist das Hauptgebet im Judentum. Es soll das jüdische Volk auf religiöser Ebene zusammenhalten. Aus diesem Grund sind in der Amida viele Bitten in der Wir-Form geschrieben. Wie der Name Schmone Esre (hebräisch für 18) sagt, bestand die Amida ursprünglich aus 18 Segenssprüchen. In den ersten drei stellen wir uns sozusagen vor. Dabei berufen wir uns auf unsere Vorväter Awraham, Jizchak und Jakow und preisen die Kraft, die Macht und die Heiligkeit G’ttes. Weitere zwölf Segenssprüche bestehen vor allem aus Bitten, wie die um Weisheit, Gesundheit, materiellen Segen und Erlösung. In den letzten drei Brachot geht es um die Anerkennung G’ttes, den Ihm gebührenden Dank und um Frieden. Später wurde in der Mitte des Gebets ein 19. Segensspruch zum Verschwinden des Frevels eingefügt. Der Name »Amida« geht auf das Verb »amad« (stehen) zurück, denn das Gebet wird im Stehen gesprochen. Es wird auch als »das stille Gebet« bezeichnet, denn man spricht es leise. Gewöhnlich wird es dreimal am Tag gesagt, an Feiertagen viermal.