Vor 20 Jahren war die Israelin Sivan Maas als Emissärin der Jewish Agency in den USA und besuchte die Stadt Michigan. »Mein Selbstbild als Jüdin hat sich dort verändert«, sagt die Rabbinerin heute. Damals fuhr sie von einer jüdischen Gemeinde zur nächsten. Und als sie auf dem Weg an einem Schild mit der Aufschrift »The Birmingham Temple« vorbeikam, wurde sie neugierig und ging in das Gebäude.
Drinnen hörte sie die versammelte Gemeinde Lieder singen, die ihr vertraut erscheinen. Dann bekam sie ein Papier in die Hand gedrückt. Das erste Mal erfuhr sie an diesem Tag vom säkular-humanistischen Judentum. »Später hat mir ein Rabbiner erklärt, dass ich auf nichtreligiösem Weg Rabbinerin werden kann«, erinnert sie sich. Heute ist sie genau das: eine atheistische, humanistische Rabbinerin.
Auch der Ursprung des humanistischen Judentums liegt in Michigan, denn dort wurde die Gemeinde 1963 vom reformistischen Rabbiner Sherwin Wine gegründet. Sie entwickelte sich dann zum Birmingham-Tempel. Fünf Jahre später schlossen sich die ersten Gemeinden zur Society for Humanistic Judaism, der Gesellschaft für Humanistisches Judentum, zusammen.
In den 80er-Jahren wurde dann in Jerusalem ein internationales Institut gegründet, das in den USA und in Israel Rabbiner, Pädagogen und Führungspersönlichkeiten ausbildet, sich für Pluralismus einsetzt und Zeremonien abhält. Sivan Maas leitet Tmura, den israelischen Teil dieses Instituts.
identität Der Glaube an einen übernatürlichen Gott ist dem humanistischen Judentum fremd. Stattdessen stehen der Mensch und sein Einfluss auf das Leben im Mittelpunkt. Jüdischsein ist hier vor allem eine Frage der Identität und der Kultur. »Das Judentum ist eine Kultur. Und wie jede andere Kultur, hat auch diese religiöse Aspekte«, erklärt Maas.
Die Bibel sieht sie als ein kulturelles Erbe, das durch menschliches Handeln geschaffen wurde. Auch die Zeremonien und Rituale haben im humanistischen Judentum ihren ganz eigenen Charakter. Gebete werden dabei nie gesprochen. Und zum Jom Kippur fasten bei Weitem nicht alle. Man könne das Fasten aber als Anlass nehmen, um Kinder auf das Hungerproblem in der Gesellschaft aufmerksam zu machen, heißt es auf der Webseite der Gesellschaft für Humanistisches Judentum.
Für Sivan Maas bedeutet Rabbinerin zu sein vor allem eines: der Gesellschaft zu dienen. Bedarf an mehr Bewusstsein für die humanistischen Werte im Judentum sehe sie in Israel genug. In ihrer Familie sei es Tradition gewesen, Israel von unten mit aufzubauen. Sie habe ihren Vater damals gefragt: »Was kann ich Bedeutsames tun?« Die Antwort weiß sie jetzt.
Nachdem sie nach ihrem Aufenthalt in Michigan zurück in Israel war, habe ihr ein humanistischer Rabbiner das Studium ans Herz gelegt. »Ich habe erkannt, dass die israelische Gesellschaft mich und das humanistische Judentum braucht«, erklärt sie.
Gesellschaft Über das Internationale Institut für humanistisches Judentum (IIHJ) und dessen israelische Zweigstelle Tmura soll vor allem auch die Gesellschaft verändert werden. »Hier bildet ein Rabbiner den nächsten aus. Und wir wollen Fakten in der Gesellschaft schaffen«, sagt sie selbstbewusst.
Das passiere besonders über die vielen Initiativen der Absolventen von Tmura, über die Sivan Maas mit Begeisterung spricht. Beispielsweise habe ein Student eine Internetseite gegründet, auf der humanistische Rabbiner ihre Dienste für Hochzeiten und jüdische Feierlichkeiten anbieten.
In Israel kann nur nach orthodoxem Religionsverständnis geheiratet werden. Es gibt also keine standesamtliche oder alternative Trauung, sodass viele junge israelische Paare für eine nichtorthodoxe Hochzeit ins Ausland reisen, etwa ins nahe
gelegene Zypern.
Ein anderer Absolvent eines Lehrgangs von Tmura habe es geschafft, die humanistischen Werte des Judentums verstärkt in die Unterrichtspläne von mehr als 90 Schulen zu bringen. Neben dem gewöhnlichen Religionsunterricht werde so das Judentum als Kultur gelehrt, und das Verständnis von Pluralismus in der Gesellschaft gefördert, meint Maas.
Besonders stolz sei sie über den Erfolg einiger Projekte, die auf eine Besserstellung der Frau in der israelischen Gesellschaft abzielen. Tmura habe eine Koalition mit mehreren Organisationen in der Zivilgesellschaft gegründet, »um etwas dagegen zu tun, dass Frauen ins Private verbannt und aus der Öffentlichkeit ausgeschlossen werden«, sagt sie. Dazu wurde ein Preis für Kampagnenideen ausgeschrieben. »Und wir gehen in Schulen. Wir unterrichten und diskutieren dort über die Stellung der Frau in der traditionellen jüdischen Gesellschaft.«
Pluralismus Dass die Ideen des humanistischen Judentums in religiösen jüdischen Gemeinschaften als Provokation aufgefasst werden könnten, glaubt Sivan Maas nicht. Eine Konfrontation mit anderen Strömungen suche man jedenfalls nicht. Vielmehr geht es um die Akzeptanz von Pluralismus.
»Schon jetzt sind Hunderttausende Israelis absolut nicht religiös. Und die israelische Gesellschaft ist stark gespalten. Doch nur wenn wir alle gesellschaftlichen Unterschiede anerkennen, können wir auch geeint sein«, erklärt Maas und verweist auf das hebräische Wort für Kultur – Tarbut – das seinen Ursprung in der Bedeutung »viel« habe.
Doch wie schwer es ist, mit einigen Traditionen zu brechen, hat auch sie erkennen müssen. Denn obwohl sie gegen die im Judentum gebräuchliche Beschneidung ist, wurde ihr Sohn beschnitten. »Ich dachte immer, dass er eines Tages zu mir kommen wird und sagt: ›Warum hast du mich gegen meinen Willen verletzt?‹«, erklärt sie. Der Satz habe sie lange verfolgt. Aber so wie bei vielen anderen Dingen, habe sie »52 Ausreden, warum sie es am Ende doch der Tradition nach gemacht habe«.
www.birminghamtemple.org