Die Leichtigkeit des Sommers: Die Menschen genießen die lauen Abende, vor allem aber die hellen Tage. Es ist wissenschaftlich bewiesen, dass Sonnenlicht die Produktion von Serotonin im Gehirn stimuliert, das »Glückshormon«. Die viele Sonne hebt also die Stimmung. Zugleich ist es in einigen Gegenden unerträglich heiß. Im Land Israel wird es nicht mehr lange dauern, bis die Phase des Jahres beginnt, in der es regnen soll. Und genau in diese helle Zeit fällt der »dunkelste« Tag des jüdischen Jahres, Tischa beAw, der 9. Aw.
In die dunkelste Zeit des Jahres fällt hingegen das leuchtende Chanukka. Dieses Fest erhellt die Dunkelheit und erinnert an die Wiedereinweihung des Tempels. Tischa beAw auf der anderen Seite erinnert an den Verlust des Tempels. Ehrlicherweise weniger »beachtet« und »populär« als Chanukka. An diesem Tag wird des Verlustes beider Tempel gedacht.
»Dass ich Tag und Nacht beweinen könnte die Erschlagenen meiner Gemeinden.«
Schon zur Zeit des Zweiten Tempels haben Jüdinnen und Juden für den Verlust des Ersten Tempels gefastet. So nimmt es Maimonides, der Rambam (1135–1204), in seinem Kommentar zur Mischna Rosch Haschana (1,3) an. Wenngleich der Tempel wiedererrichtet wurde, war der Verlust ein tiefer Schnitt und prägte sich ein. Aber auch andere Unglücke geschahen am 9. Aw. So heißt es in der Mischna (Ta’anit 4,6): »Am 9. Aw wurde über unsere Väter verhängt, dass sie nicht ins Land einziehen würden, wurde der Tempel das erste Mal und das zweite Mal zerstört, Bet Tor erobert und die Stadt gepflügt. Mit dem Eintritt des Aw soll man die Fröhlichkeit herabsenken.«
In den dunklen Synagogen wird das biblische Buch Ejcha (Klagelieder) rezitiert. Eindrückliche Bilder werden verwendet, um zu zeigen, wie die Stadt Jerusalem entvölkert wurde: »Wie einsam sitzt die Stadt, die einst voller Menschen war! … Sie weint bitterlich in der Nacht, mit Tränen auf ihren Wangen. … Die Straßen nach Zion trauern, denn niemand kommt zu den Festen, alle ihre Tore sind verwüstet.«
Der traumatische Verlust des wichtigsten Bezugspunktes jüdischen Lebens wird nacherlebt. Das betrifft auch den hohen Blutzoll, den die Römer dem jüdischen Volk abverlangt haben durch Aushungern oder Krankheiten und das anschließende Exil, in das die Römer das Volk gezwungen haben. Der Verlust beider Tempel und die damit verbundene Trauer setzen den Grundton dafür, was in der Folgezeit passieren wird. In die drei Trauerwochen sollten auch die Vertreibungen aus England (1290) und Spanien (1492) fallen. Der 1. August 1914, jener Tag, an dem Deutschland Russland den Krieg erklärte, fiel ebenfalls auf Tischa beAw.
Die Kinnot, also jene Trauergesänge, die zu Tischa beAw im Anschluss an die Klagelieder aus dem Buch Ejcha rezitiert werden, greifen vor allem die älteren Ereignisse auf, an die wir an diesem Tag erinnern. Aber einige Kinnot thematisieren auch neuere Katastrophen. Die Kinna »Mi jiten roschi majim – wäre doch mein Haupt ein Wasserstrom« ist eine von ihnen. Der Text beschreibt die Tragödien der Gemeinden Worms, Speyer und Mainz während des ersten Kreuzzugs im Jahr 1096. Ihre ersten Verse sind zeitlos erschreckend und könnten auch jüngste Ereignisse beschreiben: »Wäre doch mein Haupt ein Wasserstrom, mein Auge ein Tränenquell, auf dass ich Tag und Nacht beweinen könnte die Erschlagenen meiner Gemeinden, die Kinder und Säuglinge und Greise.«
Oder: »Mit tränenden Augen wandle ich im Jammergefilde und lasse die Herzbetrübten dort mit mir weinen über die schönen Jungfrauen, über die zarten Kinder, die in ihren Bücherrollen eingehüllt zur Schlachtbank geschleppt wurden.« Wie der unbekannte Autor der Kinna selbst in den Text eingewoben hat, fanden die erschreckenden Ereignisse selbst nicht am 9. Aw, sondern in Speyer am 8. Ijar statt, in Worms am 23. Ijar und am 1. Siwan und in Mainz am 3. Siwan. Warum also fügte der Autor diese Tage in ein Trauerlied zum 9. Aw ein?
Der Dichter selbst gibt uns eine Antwort, die für die spätere Geschichte des Tages wichtig sein wird und erklärt, warum heute an Tischa beAw an alle schwarzen Tage der jüdischen Geschichte gedacht wird. Gegen Ende der Kinna heißt es: »Nur weil der bestimmten Trauerzeit nicht noch andere Trauertage hinzugefügt werden sollen, darum wartete ich bis heute mit der Erhebung meiner Klagen und trauere jetzt und jammere bitterlich.« Etwas deutlicher formuliert: Es ist nach unserer Tradition nicht möglich, neue Tage der Erinnerung an Katastrophen oder Ereignisse einzuführen, die nach der Zerstörung des Tempels stattfanden und stattfinden werden. Möglicherweise bezieht sich der Dichter der Kinna hier auf eine halachische Beschränkung, die später nicht mehr belegt ist.
Als der aschkenasische Oberrabbiner für (damals noch) Palästina, Jitzchak Herzog, 1942 einen Tag des Fastens und Trauerns für die Katastrophe ansetzte, die sich in Europa abspielte, erhielt er viel Zustimmung – aber auch Ablehnung. Insbesondere von Rabbiner Jitzchak Zeʼew Halewi Soloveitchik (1886–1959), dem »Brisker Rebben«, der seine Jeschiwa gerade im Land aufgebaut hatte. Soloveitchik lehnte einen speziellen Fastentag ab und bezog sich auf ebenjene Kinna »Mi jiten roschi«, wenngleich zunächst nicht die Rede von der permanenten Einrichtung eines Fastentages war. Diese Entscheidung war später dann die Grundlage für die Ablehnung des Jom Haschoa, des Gedenktages für die Opfer der Schoa.
»Wenn nur Ströme von Wasser von den Augen herunterfließen könnten.«
Der einflussreiche Rabbiner Mosche Feinstein (1895–1986) bezog sich in einer Entscheidung gegen den Jom Haschoa 1982 ebenfalls auf jene Kinna. Heute wird das in einigen Strömungen der jüdischen Welt so gehalten: Sie gedenken an Tischa beAw auch der Opfer der Schoa. Rabbiner Schlomo Halberstam (1908–2000), der dritte »Bobover Rebbe«, dichtete 1984 speziell für diesen Anlass die Kinna »Zichru na – erinnere doch«, und Rabbiner Schimon Schwab, geboren 1908 in Frankfurt am Main, dichtete 1959, auf Bitte von Rabbiner Josef Breuer, die Kinna »HaSocher – der sich Erinnernde«. In beiden Kinnot werden die Grauen der Schoa beschrieben. In Rabbiner Schwabs Kinna heißt es: »Wenn nur Ströme von Wasser von den Augen herunterfließen könnten / zu den Wasserfällen der Flüsse der Tränen, / für die tausend mal tausend Leichen / die im Feuer der Zerstörung und des Schreckens verbrannt sind.« Die wenigen Zeilen reichen, um die Anspielung auf »Wäre mein Haupt ein Wasserstrom« zu verstehen. Beide Kinnot sind heute Teil einiger Sammlungen von Kinnot.
Betrachtet man die Stellungnahmen der Rabbiner, wird deutlich, dass die »Opposition« gegen die Einführung eines speziellen Gedenktags keinesfalls als Opposition gegen den modernen Staat Israel oder den Zionismus zu verstehen ist. Sie beziehen sich vielmehr auf die Kinna und möchten keinen weiteren Tag der Trauer einführen. Möglicherweise schlagen sie damit eine Brücke zu Rabbi Jehoschua, der im Talmud über das Trauern und den Verlust des Tempels spricht (Baba Batra 60b).
Rabbi Jehoschua beobachtete, dass immer mehr Menschen dazu übergingen, auf Fleisch und Wein zu verzichten. Er wandte sich an sie: »Meine Kinder, weshalb esst ihr kein Fleisch und trinkt keinen Wein?« Und sie antworteten: »Wie sollten wir Fleisch essen, das auf dem Altar dargebracht wurde, was nun aufgehört hat; wie sollten wir Wein trinken, der auf den Altar gegossen wurde, was nun aufgehört hat?«
Rabbi Jehoschuas Antwort war polemisch: »Demnach sollten wir auch kein mehr Brot essen, weil die Speiseopfer aufgehört haben. Man kann auch mit Früchten auskommen. Aber wir sollten auch keine Früchte essen, weil die Darbringung der Erstlinge aufgehört hat. Man kann mit anderen Früchten auskommen. Wir sollten auch kein Wasser trinken, da die Wasserprozession aufgehört hat.« Damit brachte er seine Gesprächspartner zum Schweigen. Aber er tröstete die Gemeinschaft: »Kinder, kommt, ich will euch sagen; überhaupt nicht zu trauern, ist unmöglich, wo doch das Unglück verhängt worden ist; aber auch übermäßig trauern ist nicht erlaubt, denn man darf der Gemeinde nur dann eine erschwerende Bestimmung auferlegen, wenn die Mehrheit derselben sie ertragen kann.«
Daraus entwickelte sich dann eine regelrechte Systematik. Der Talmud fährt fort: »Vielmehr sagten die Weisen, man bestreiche sein Haus mit Kalk und lasse etwas übrig.« Das Haus soll fertiggestellt werden, aber ein kleiner Teil soll in Erinnerung an den Tempel unbeendet bleiben. Ein weiteres Beispiel betrifft die Mahlzeiten: »Man genieße bei der Mahlzeit alles, was zu dieser gehört, und lasse etwas zurück.«
Rabbi Jehoschua erkennt an, dass es unmöglich ist, die Trauer zu ignorieren, aber er merkt auch an, dass es gefährlich ist, zu viel zu trauern. Er schlägt vor, das Leben weiterzuführen, aber kleine Erinnerungen an den Verlust zu bewahren. Und genau das tun wir heute – der Sommer hält inne für einen Moment, und kleine Gesten erinnern noch heute an den Verlust des Tempels.
Jom Haschoa gibt es als weiteren Tag im Kalender, und er spielt eine wichtige Rolle. Gerade für diejenigen, die sich außerhalb eines religiösen Rahmens bewegen und dennoch erinnern möchten oder wollen. Zugleich schließt der Tag auch diejenigen ein, die Gebete sprechen möchten. Die Erinnerung an die Schoa trägt auch auf Tischa beAw eine weitere schwarze Schicht auf, und der Tag wird weiter von aktuellen Tragödien verdunkelt.
»Tröste deine Gemeinde, die sich so mächtig nach dir sehnt.«
Niemand wünscht sich, dass der Tag um weitere Tragödien ergänzt werde, bisher hat die jüdische Geschichte jedoch das Gegenteil gezeigt. Um nicht in diese Hoffnungslosigkeit zu fallen, versichert man sich dann im Winter, dass der Tempel einst wiedereingerichtet werde: zu Chanukka. Die zitierte Mischna Ta’anit endet (4,8) mit »Möge er (der Tempel) bald, in unseren Tagen noch, wiedererbaut werden! Amen.« Und Rabbiner Schimon Schwab beendet seine Kinna mit einer Aussicht auf Trost: »Oh lebendiger G’tt! Barmherziger Einer! / Tröste deine Gemeinde, die sich so mächtig nach dir sehnt, / Lass neues Licht leuchten, lass Strahlen der Herrlichkeit leuchten, / und möge G’ttes Geist schweben.«