Kennen Sie den Song »Talking to the Moon« von Bruno Mars? Die sanfte Melodie, seine gewaltige Stimme und der melancholische Text erzeugen ein sehr lebendiges Bild: Da sitzt ein Mensch in einer klaren Nacht, blickt zum großen, leuchtenden Mond und verzweifelt fast schon an seiner Sehnsucht: »In hopes youʼre on the other side talking to me, too/Or am I a fool who sits alone talking to the moon?«
Das Lied erfasst das Wesentliche der menschlichen Erfahrung von Einsamkeit und dem Wunsch nach Verständnis, der sich auf der Erde kaum erfüllen lässt. Im Judentum gibt es eine spirituelle Praxis, die diese Sehnsucht vielleicht noch intensiver erforscht und sich gleichzeitig als eine kraftvolle Methode erweisen kann, um sich wieder mit seinen Mitmenschen zu verbinden. Sie wird als »Hitbodedut« bezeichnet und ermöglicht es, in einem ehrlichen, persönlichen Gespräch mit Gʼtt seine tiefsten Gefühle und Fehler aufzuarbeiten und wahre Reue zu erleben.
Ehrliche und ungefilterte Kommunikation
»Hitbodedut«, ein Begriff aus dem Hebräischen, der auf Deutsch so viel wie »Selbstisolation« heißt, umschreibt eine intime und persönliche Konversation mit Gʼtt. Oft findet sie in der Stille der Natur oder einem ruhigen Raum statt. Entwickelt und populär gemacht von Rabbi Nachman aus Bratzlaw (1772–1810), geht es hier nicht um einen dramatischen Monolog mit dem Mond, sondern um eine ehrliche sowie ungefilterte Kommunikation mit Haschem. Zugleich hilft dieses Konzept, die tiefe Sehnsucht nach Verbindung auf eine Weise zu erleben, die weit über die metaphorische Unterhaltung mit dem Erdtrabanten hinausgeht.
Rabbi Nachman erklärte dazu: »Hitbodedut ist die höchste Stufe und größer als alles andere.« Es geht darum, völlig allein mit Gʼtt zu sprechen, und zwar so, als ob man mit einem vertrauten Freund spricht. Genau das, so Rabbi Nachmans Ansatz, kann dazu beitragen, sich anschließend mit seinen echten Mitmenschen wieder deutlich besser zu verstehen.
Vor Rosch Haschana wollen viele Menschen alte Streitigkeiten beenden.
Vor Rosch Haschana, dem jüdischen Neujahrsfest, nutzen viele Menschen die Gelegenheit, um alte Streitigkeiten zu beenden. Das ist oft eine anspruchsvolle Aufgabe, und unsere Weisen geben wertvolle Tipps, wie man sich aufrichtig und nachhaltig entschuldigen kann. Denn eine echte Entschuldigung ist mehr als nur ein paar schöne Worte oder ein flüchtiges »Es tut mir leid«. Sie erfordert ein tiefes Verständnis sowie den aufrichtigen Wunsch, sich zu ändern – schließlich geht es darum, konkret zu erklären, was eigentlich genau schiefgelaufen ist und welche Folgen das für die andere Person hatte.
Ein Beispiel aus der Tora, das diese Prinzipien veranschaulicht, ist die Geschichte von König David und Bathseba. Wie in einem Hollywood-Thriller entfaltet sich die Dramatik: David, von Bathsebas Schönheit fasziniert, beginnt eine heimliche Beziehung mit ihr. Als Bathseba schwanger wird, versucht David verzweifelt, seine Sünde zu verbergen, indem er ihren Ehemann Uria von der Front zurückruft. Doch Uria, fest entschlossen und loyal, bleibt seinem Kriegsposten treu. David schmiedet einen letzten, verzweifelten Plan und lässt Uria an die gefährlichste Stelle des Krieges versetzen, in der Hoffnung, dass er dort ums Leben kommt. Schließlich stirbt Uria im Kampf.
Wiedergutmachung und echte Veränderung
Das Drama nimmt eine entscheidende Wendung, als der Prophet Nathan vor David tritt und ihn auf seine Verfehlungen hinweist. Nathan nutzt eine eindrucksvolle Parabel, um David die Schwere seiner Sünden vor Augen zu führen. Diese Konfrontation zeigt Wirkung: David bereut aufrichtig, wie im berühmten Psalm 51 zu erkennen ist. Anstatt sich in Ausreden zu flüchten, stellt er sich seinen Taten, bemüht sich um Wiedergutmachung und strebt nach echter Veränderung.
Diese Geschichte lehrt, dass wahre Umkehr mehr erfordert als bloße Worte – sie verlangt Klarheit, Demut und den unbedingten Willen zur Besserung. Die Zeit vor Rosch Haschana ist die perfekte Gelegenheit, genau diese Prinzipien in die Tat umzusetzen, um so echte Versöhnung und inneren Frieden zu finden.
Musik wie »Talking to the Moon« bietet die Möglichkeit, tiefere emotionale Erfahrungen auszudrücken oder Gefühle wie Sehnsucht und Bedauern zu verarbeiten. Sie schafft Trost in Momenten der Reflexion und hilft, innere Konflikte besser zu verstehen. Diese musikalische Reflexion kann der erste Schritt sein, um Emotionen klarer zu erfassen und den Weg zur ernst gemeinten Reue und Veränderung zu beschreiten. »Hitbodedut« hingegen beinhaltet eine tiefere, spirituelle Dimension der Selbstreflexion.
Diese Praxis des persönlichen Gesprächs mit Gʼtt erlaubt es, Reue in einem ehrlichen und ungeschminkten Dialog zu verarbeiten. Hier können innere Gedanken und Gefühle auf eine Weise offenbart werden, die weit über die Möglichkeiten der Musik hinausgeht. Gemeinsam ermöglichen Musik und »Hitbodedut«, Fehler nicht nur zu erkennen, sondern auch tiefgehende Versöhnungsprozesse einzuleiten und eine Transformation zu beginnen. Während Musik primär die emotionale Tiefe widerspiegelt, hilft »Hitbodedut«, diese Reue in einem klaren und ehrlichen Dialog mit Gʼtt zu verarbeiten und zu neuem Leben zu erwecken.
Statt sich in Ausreden zu flüchten, muss man sich seinen Taten stellen und Veränderung anstreben.
Wissenschaftliche Studien belegen, wie Musik und »Hitbodedut« die emotionale und spirituelle Selbstregulation unterstützen können. Der amerikanische Psychologe Richard Davidson hat nachgewiesen, dass Meditation Bereiche des Gehirns aktiviert, die für Kommunikation und emotionalen Ausdruck zuständig sind, insbesondere den präfrontalen Kortex sowie das limbische System. Diese Bereiche spielen eine Schlüsselrolle bei der Verarbeitung von Gefühlen und der Fähigkeit, sich selbst und andere besser zu verstehen – Kompetenzen, die auch beim richtigen Entschuldigen von entscheidender Bedeutung sind.
Judson Brewer, ein international renommierter Neurowissenschaftler und Psychiater für Suchterkrankungen, hat ebenfalls gezeigt, dass selbst geleitete Gespräche, wie sie von der »Hitbodedut« bekannt sind, positive Veränderungen im Gehirn anregen können. Diese Art der Selbstreflexion fördert nicht nur das emotionale Wohlbefinden, sondern unterstützt auch die geistige Klarheit und das Verständnis, das für eine aufrichtige Entschuldigung notwendig ist.
Emotionale Klarheit und Selbstregulation
In der Harvard University steht das sogenannte »Meditation Research Lab«. Dort hat Sara Lazar durch ihre Forschung zur Neuroplastizität entdeckt, dass die bewusste Formulierung von Gedanken während der Meditation spezifische Gehirnregionen aktiviert, und zwar solche, die für die emotionale Klarheit und Selbstregulation wichtig sind. Diese Erkenntnisse erklären, warum sowohl die emotionale Ausdruckskraft der Musik als auch die tiefgehende Selbstreflexion durch »Hitbodedut« so effektiv sind, wenn es darum geht, echte Reue zu erfahren und zu kommunizieren.
All diese wissenschaftlichen Erkenntnisse belegen, wie Musik und »Hitbodedut« auf neurobiologischer Ebene das Verständnis und die Fähigkeit zur Entschuldigung unterstützen können. In der unmittelbaren Zeit vor Rosch Haschana, also in der Phase, in der man sich auf persönliche und spirituelle Erneuerung konzentriert, kann dieses Wissen durchaus helfen, die Prozesse der Reue und der Versöhnung noch gründlicher zu verstehen und in sein Denken und Handeln zu integrieren.
Der Autor ist Rabbiner, Paar- und Familientherapeut und lebt in Jerusalem.