Teschuwa

Mehr als ein Crashkurs

Wer die Tora nur oberflächlich lernt, vergisst sie schnell. Das lehrt die Geschichte vom Goldenen Kalb

von Rabbiner David Bollag  22.02.2016 19:29 Uhr

»Und sie sprachen: ›Dies sind deine Götter, Israel, ...‹« (2. Buch Mose 32,4). Foto: Marco Limberg

Wer die Tora nur oberflächlich lernt, vergisst sie schnell. Das lehrt die Geschichte vom Goldenen Kalb

von Rabbiner David Bollag  22.02.2016 19:29 Uhr

Die Versuchung des Götzendienstes soll es – gemäß dem Midrasch (Schir Haschirim Rabba 7,13) – eigentlich gar nicht mehr geben. Auch sind seit dem Goldenen Kalb mehr als 3000 Jahre vergangen. Unser unmittelbares Interesse an dieser traurigen Episode der jüdischen Geschichte sollte demnach nicht mehr allzu groß und die aktuelle Bedeutung dieser Parascha dementsprechend gering sein. Aber dennoch zieht uns die Geschichte um das Goldene Kalb jedes Jahr erneut in ihren Bann und versucht, uns immer wieder neue und überzeugendere Antworten auf das ewige Rätsel des Goldenen Kalbs zu geben.

Die Kinder Israels hatten doch bei den Zehn Plagen und dem Auszug aus Ägypten, bei der Spaltung des Schilfmeers und der Offenbarung am Berg Sinai die Existenz G’ttes so direkt erlebt. Wie konnte es geschehen, dass sich dieses Volk so kurz danach wieder von G’tt abwandte und ein Goldenes Kalb anbetete?
Unter den modernen Erklärungen zum Egel Hasahaw, dem Goldenen Kalb, findet sich eine originelle Idee. Sie lässt uns nachvollziehen, wie es 40 Tage nach der Offenbarung am Berg Sinai zu dieser Abwendung kommen konnte. Gleichzeitig lässt sich diese Idee auch auf ein interessantes psychologisches und soziologisches Phänomen der heutigen jüdischen Gesellschaft beziehen.

Wissen Rabbiner Aaron Soloveitchik (1917–2001) unterscheidet – mit der für die Brisker Tradition typischen Methode – zur Erklärung des Goldenen Kalbs zwischen zwei Arten der Aneignung von Wissen: Bei der einen beeindruckt und überwältigt der Lehrer seinen Schüler durch die enormen Kenntnisse, die er ihm in kurzer Zeit und in großen Mengen vermittelt. Der Schüler eignet sich dabei das Wissen zwar an, nimmt die Informationen auf, hat aber nicht die Möglichkeit, das Gelernte richtig zu verarbeiten. Das Wissen ist zu umfangreich, und die Aneignung war zu schnell.

Bei der zweiten Art der Vermittlung geht der Lehrer vollkommen anders vor: Er unterrichtet seinen Schüler schrittweise, lehrt ihn kleine Mengen und über eine längere Zeitspanne verteilt. Dies ermöglicht es dem Schüler, sich das Wissen in einem langsamen Lernprozess anzueignen, es in sich aufzunehmen und selbstständig zu verarbeiten.

Kritiklos Die erste Art der Wissensaneignung zeichnet sich dadurch aus, dass der Schüler von seinem Lehrer und dessen umfangreichen Kenntnissen sehr bewegt und berührt und deshalb bereit ist, das ihm Beigebrachte schnell und oft kritiklos anzunehmen. Doch so schnell, wie das Wissen zu ihm kam, so schnell verlässt es ihn auch wieder. Und je weiter der Zeitpunkt, da er sich das Wissen angeeignet hat, zurückliegt, desto weniger erinnert er sich an das Gelernte.

Da das Studium der zweiten Art hingegen langsam verläuft, prüft der Schüler das ihm präsentierte Wissen, macht sich seine eigenen Gedanken darüber und nimmt es erst an, nachdem er es verstanden hat. So eignet er sich sein Wissen zwar langsamer an, kann sich aber viel länger an das Gelernte erinnern. Denn dadurch, dass er alles, was er lernt, auch verarbeitet, hat er das Wissen zu einem Teil seiner selbst gemacht und wird es besser in Erinnerung behalten.

Raw Aaron Soloveitchik weist nun darauf hin, dass das Volk Israel sich sein Wissen um die Existenz G’ttes auf die erste der beschriebenen Arten angeeignet hat. Es war beeindruckt und überwältigt, bewegt und berührt von der Offenbarung G’ttes, vor allem bei der Spaltung des Schilfmeers und am Berg Sinai. Es war schnell bereit, alles, was G’tt sagte, sofort und ohne Kritik anzunehmen: »Na’ase wenischma« – »Wir wollen es tun und gehorchen« (2. Buch Mose 24,7). Mosche kam und überbrachte dem Volk alle Worte G’ttes und alle Gesetze. Und das Volk reagierte einstimmig und sagte: »Alles, was G’tt gesagt hat, werden wir tun« (24,3).

Vergessen Doch genauso schnell, wie das Volk bereit war, alles anzunehmen, legte es alles auch wieder ab. Es vergaß G’tt, betete ein Stück Metall an und sagte zu ihm: »Dies ist dein G’tt, Israel« (32,4 ). Die Überzeugung kam zu schnell – und ging deshalb auch sehr schnell wieder.

So erklärt Raw Aaron Soloveitchik auf eine neuartige und einleuchtende Art das Phänomen des Goldenen Kalbes. Wir wollen diese Idee nun auf unsere Zeit übertragen und sie auf ein heutiges Phänomen der jüdischen Gesellschaft beziehen.

Sowohl in Israel als auch in den großen Zentren der Diaspora ist Chasara Bitschuwa sehr verbreitet: Viele jüdische Jugendliche und vor allem Studenten sowie auch Erwachsene kehren zum Judentum zurück. Es ist zu einem Beruf geworden, andere zur Teschuwa zu bewegen: Ein »Machsir Bitschuwa« ist jemand, der andere zur Umkehr führt. Den Anstoß zur Rückkehr gibt manchmal ein Wochenendseminar, bei dem viele ihr Judentum wiederfinden.

Es ist jedoch interessant und statistisch belegt, dass die Umkehr in etwa der Hälfte der Fälle nicht anhält. Die Teschuwa verschwindet so schnell, wie sie kam, auch – und häufig gerade – bei denjenigen Seminarteilnehmern, die am begeistertsten waren.

Der Grund dafür liegt darin, dass Teschuwa mehr ist als eine Weekend-Gehirnwäsche. Teschuwa muss ein Prozess sein, während dem die Tora Schritt für Schritt erfahren und gelernt, kritisch überdacht und selbstständig verarbeitet wird. Man kann sie nur in kleinen Mengen aufnehmen, sie muss nach und nach, ganz allmählich, Teil des Menschen werden. Nur so hält die Teschuwa auch an.

Die Aneignung der Tora soll also auf die zweite der oben beschriebenen Arten vor sich gehen. Das lernen wir aus der Geschichte vom Goldenen Kalb.

Der Autor ist Rabbiner einer Gemeinde in Efrat bei Jerusalem und lehrt an den Universitäten Zürich und Luzern.

Die Originalfassung des von uns bearbeiteten Textes erschien in dem Band »Mismor LeDavid. Rabbinische Betrachtungen zum Wochenabschnitt« (Verlag Morascha, Basel 2007).

Inhalt
Zu Beginn des Wochenabschnitts Ki Tissa wird Mosche damit beauftragt, die wehrfähigen Männer zu zählen. Es folgen Anordnungen für das Stiftszelt. Die Gesetze des Schabbats werden mitgeteilt, und es wird die Bedeutung des Ruhetags als Bund zwischen G’tt und Israel betont. Der Ewige gibt Mosche zwei Steintafeln, mit denen er ins Lager der Israeliten zurückkehrt. Dort haben sich die Wartenden in der Zwischenzeit ein Goldenes Kalb gegossen, dem sie Opfer darbringen. Im Zorn darüber zerbricht Mosche die Steintafeln, und der Ewige bestraft die Israeliten mit einer Plage. Später steigt Mosche auf den Berg und erhält neue Bundestafeln.
2. Buch Mose 30,11 – 34,35

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