Es gibt ein Sprachproblem, vor dem nahezu alle Generationen von Juden seit der Zeit des Talmuds standen. Denn schon zu dieser Zeit war Hebräisch nicht die »erste« Sprache des jüdischen Volkes. Beinahe alle Menschen sprachen Aramäisch, viele auch Griechisch, und immer weniger verstanden Hebräisch perfekt.
Dass der Talmud selbst auch in aramäischer Sprache verfasst ist und viele griechische Lehnwörter enthält, zeigt schon, welchen Stellenwert diese Sprachen im Leben des jüdischen Volkes hatten. Auf der anderen Seite waren und sind alle wichtigen Texte in hebräischer Sprache. Es ist also kein Phänomen der neueren Zeit und kein aktueller Niedergang des jüdischen Wissens. Es gab verschiedene Versuche, dies zu verhindern: Einige Strömungen haben Gebete in Landessprache zugelassen, andere haben Gebete transliteriert.
texte Es gab und gibt zahlreiche gute und schlechte Übersetzungen der wichtigsten Texte. Immer wieder gibt es auch Versuche einer umfassenden »Alef-Bejtisierung«, also auf breiter Ebene den Versuch, jedem Juden zu ermöglichen, Hebräisch zu verstehen.
Im Traktat Megilla, in dem es vorwiegend um die Estherrolle, um Purim und ein paar Auslegungen der Esthergeschichte geht, ist das öffentliche Vortragen der Tora ein Thema – und auch die Sprache, in der das alles stattzufinden hat. Ab Blatt 17 werden wir Zeugen einer Diskussion darüber, ob die Estherrolle, Megillat Esther, auch in der Landessprache vorgetragen oder gelesen werden darf, um die Mizwa des Megilla-Lesens zu erfüllen.
Reicht stilles Lesen vielleicht? In Kurzform kann man zusammenfassen: Die Mizwa werde nur und ausschließlich durch den öffentlichen Vortrag erfüllt; dieser müsse in »Aschurit«, das meint hier Hebräisch, stattfinden. Es dürfe aber eine Übersetzung in die Sprache der Zuhörer geben. Um es noch ein wenig komplexer zu machen, wird gesagt, dass man die Mizwa auch dann erfüllt habe, wenn man die Megilla in hebräischer Sprache gehört hat, aber das gar nicht versteht.
talmud Doch der Talmud bleibt nicht bei der Megilla und wendet sich, im Rahmen einer Diskussion über das Sprechen von Texten aus der Tora im Rahmen der täglichen Gebete, auch der Tora selbst zu: »Können wir sagen, dass nach den Weisen die gesamte Tora in der heiligen Sprache gelesen werden muss? – Kommt euch in den Sinn, dass die Tora in jeder Sprache gelesen werden kann?« (Megilla 17b).
Laut Raschi-Kommentar zu dieser Stelle bezieht sich diese Aussage sogar auf die öffentliche Toralesung. Rabbiner Adin Steinsaltz hebt hervor, dass das Lesen der Tora gar kein Gesetz sei, das durch die Tora geboten wird. Ausnahme sei die Erinnerung an Amalek im Abschnitt »Sachor« (5. Buch Mose 25, 17–19).
Dies gehe aus den Tosafot hervor, den Kommentaren aus dem Mittelalter zum Talmud. Spezielle Teile aus der Tora seien demzufolge unbedingt in hebräischer Sprache vorzutragen.
An einer anderen Stelle im Talmud (Schabbat 88b) heißt es, die Tora sei Mosche am Sinai zwar in hebräischer Sprache übermittelt worden, sie sei aber auch in »allen« 70 Sprachen der Welt gehört worden. Rabbi Schimon ben Gamliel habe gar gesagt (Megilla 9a), die Tora dürfe sowohl in Griechisch als auch in Hebräisch geschrieben werden.
diskussion Im Traktat Sota (33a) begegnet uns diese Diskussion erneut mit ähnlichen Argumenten. Dort wird gesagt, das Schma Jisrael müsse in der »heiligen« Sprache gesprochen werden. Die Amida hingegen könne in jeder Sprache gesagt werden. Da es sich um eine Bitte um göttliche Barmherzigkeit handele, dürfe man sie in jeder Sprache sprechen.
Verblüffend ist dann aber eine Einschränkung: »Hat nicht Rabbi Jehuda gesagt, man dürfe niemals eine Bitte in aramäischer Sprache formulieren, denn die Dienstengel hören dem nicht zu – sie kennen kein Aramäisch.« Das bezieht sich jedoch nur auf das Gebet einer Einzelperson, denn das Gebet mit einem Minjan benötigt keine Dienstengel, um die Gebete zu G’tt zu tragen – so der Talmud. Es ist also beruhigend, dass fehlende umfassende Sprachkenntnisse nicht nur ein Problem des durchschnittlich gebildeten Juden sind.