Der Wochenabschnitt Schemot beginnt damit, dass Josef und mit ihm die ganze Generation derer aus dem Beit Jakow, die einst als geachtete Bürger in Ägypten lebten, mittlerweile verstorben sind. Es erhob sich ein neuer König über Ägypten, der Josef nicht gekannt hatte.
Das wird meist so interpretiert, dass der neue Pharao, von dem da die Rede ist, von Josef nichts wusste. Es kann aber auch bedeuten, dass dieser neue Pharao ganz genau wusste, wer Josef war, nämlich der wichtigste Mann unter der früheren Herrscherdynastie. Es heißt, dieser neue Pharao stamme aus einer anderen, rivalisierenden Dynastie. Darum habe er auch keinerlei Interesse daran gehabt, die Nachkommen von Josef und seiner Familie weiterhin bevorzugt zu behandeln – ganz im Gegenteil. Dies wäre zumindest eine Erklärung für die Grausamkeit, mit der die Kinder Israels unter diesem neuen Pharao, der die männlichen Neugeborenen der Hebräer zu töten befahl, behandelt werden.
SKLAVEN Wir lesen in unserem Wochenabschnitt, dass sich die Kinder Israels stark vermehrt hatten; das steht im Text. Was uns der Text nicht sagt, ist, ob sie noch dem G’tt Awrahams, Jizchaks und Jakows dienten, und ob sie zu Ihm im Gebet um Erlösung vom Sklavendasein baten. Dabei war doch bereits dem Awraham verheißen worden, dass seine Nachkommen zwar in einem fremden Land geknechtet, dann aber als freie Menschen zurückkehren würden; und das Volk, dem sie dienten, werde gestraft werden (1. Buch Mose 15, 13–14).
Und hatte nicht auch Josef auf dem Sterbebett gesagt, dass der Ewige die Kinder Israels dereinst in ihr Land zurückführen werde? Selbst wenn das Volk es vergessen oder die Verheißung für eine fromme Legende gehalten haben sollte, so hat doch der Ewige die Kinder Israels nicht vergessen. Er sieht sie und weiß, jetzt ist die Zeit gekommen, sich ihrer anzunehmen. Er wird Mosche auftragen, es den Ältesten des Volkes mitzuteilen, dass Er sie bedacht habe und sie aus Ägypten herausführen werde.
Die Tora berichtet nur wenig aus Mosches Jugendzeit.
Noch weiß Mosche allerdings nichts von seinem Auftrag. »Moses« nennt ihn seine ägyptische Stiefmutter, ein durchaus gängiger ägyptischer Name. Ein hebräischer Junge mit einem ägyptischen Vornamen. Ein Junge, der aus dem »Sklavenvolk« stammt, aber als ägyptischer Prinz am Hofe des Pharaos aufwächst. Wann hat er wohl erfahren, dass er ein Hebräer ist? Und was mag in ihm dabei vorgegangen sein?
Ein Kind, ein Jugendlicher, ein junger Mann zwischen zwei Welten. Nur wenig berichtet uns die Tora über diese Zeit in Mosches Leben. Aber etwas erfahren wir doch, nämlich, dass er ein Mann ist, für den Gerechtigkeit einen sehr hohen Stellenwert hat, und dass er sich für Schwächere einsetzt. Zunächst ist er ein noch sehr impulsiver Kämpfer für diese Gerechtigkeit. Er erschlägt einen ägyptischen Aufseher und muss fliehen. Damit hat er den Pharao gegen sich aufgebracht, aber auch sein eigenes Volk steht ihm offenbar ablehnend gegenüber (»Wer hat dich zum Oberhaupt und Richter über uns gesetzt?«).
Moses flüchtet nach Midjan und beschützt dort am Brunnen die Töchter des dortigen Priesters vor der Willkür der anderen Hirten. Er heiratet und wird zu Mosche, dem Schafhirten. Ob er sich dort wohl heimisch gefühlt hat? Immerhin nennt er seinen ältesten Sohn Gerschom: ger scham (auf Deutsch: »wohnt dort«). Meint er mit »scham« Ägypten? Dann wäre ihm in der Tat Midjan zur Heimat geworden.
Und nun ist die Zeit gekommen, da sich der Ewige Seines Bundes mit Awraham, Jizchak und Jakow erinnert. Dass es Mosche sein wird, der das Volk herausführen soll, ist dem Ewigen lange bekannt; Mosche erfährt es erst, als er vor dem brennenden Dornbusch steht.
ZÖGERN Längst ist aus dem Prinzen ein Mann der Wüste geworden, besonnen und wohl auch ein wenig bedächtig, ein Familienvater. Er ist nicht mehr der ungestüme junge Mann, der sich ohne Zögern eingesetzt hat für einen misshandelten Sklaven und für bedrängte junge Frauen. Und so reagiert Mosche zurückhaltend, ja beinahe zaghaft auf seine Berufung durch den Ewigen.
Mosche wird immer wieder mit dem Ewigen diskutieren, Ihn manchmal sogar umstimmen.
Warum bittet er denn den Ewigen nicht einfach um Seine Hilfe, sondern bringt Einwand um Einwand vor, weswegen er diesen Auftrag nicht annehmen könne? Vielleicht ist es so, dass er zuvor erst lernen muss, dem Ewigen zu vertrauen und sich auf Ihn einzulassen, nachdem Mosche sich bisher nur auf sich selbst verlassen hatte.
Wenn er fragt, was er denn den Kindern Israels erzählen solle, wer ihn da schickt, um das Volk aus Ägypten zu führen, so will er es wohl zuerst einmal selbst erfahren. Im Gegensatz zum Pharao, der dieselbe Frage später ironisch und herablassend stellen wird, fragt Mosche aufrichtig und voll Ehrfurcht. Und der Ewige gibt ihm zur Antwort: »Sag den Bnej Jisrael: ›Ich bin, der Ich bin.‹«
ERRETTUNG Rabbiner Gunther Plaut (1912–2012) schreibt dazu: »Sein Volk mag (den Ewigen) zu diesem Zeitpunkt noch nicht gekannt haben, doch es wird Ihn in der ereignisreichen Errettung kennenlernen.« Und auch Mosche wird den Ewigen näher kennenlernen. Noch aber zögert er, sich auf den Willen des Ewigen einzulassen, und so sagt er zum Ewigen: »Ach, Herr, sende doch, wen Du willst!«
Da entbrannte der Zorn des Ewigen gegen Mosche, wie es heißt. Oder war es etwa so, dass sich die Flamme in diesem Moment vom Ewigen auf Mosche übertrug, sich in ihm entzündete? Bisher hatte Mosche immer noch versucht, sich entschuldigend herauszureden aus dieser Verpflichtung, die ihm der allmächtige Ewige, der so hoch über ihm, dem schwachen Menschen, steht, zugedacht hat: »Ach bitte, mit Verlaub!« Doch nun kommt ihm der Ewige ganz nahe, und Seine Worte klingen gar nicht zornig, nur sehr bestimmt – und sehr konkret. Und Mosche geht, nimmt den Auftrag an.
Allerdings wird sich der Ewige im Weiteren noch öfter erzürnen, nicht nur über Mosche, sondern über das ganze Volk. Und Mosche wird immer wieder mit dem Ewigen diskutieren, Ihn manchmal sogar umstimmen. In allem, was Mosche tun wird, bleibt er zwar stets ein Werkzeug des Ewigen, aber er schaltet sein eigenes Denken und Fühlen niemals aus. Gerade dadurch erweist er sich als würdiger Nachkomme von Jakow, Israel, dem G’ttesstreiter.
Die Autorin ist Rabbinerin der Liberalen Jüdischen Gemeinde Mischkan ha-Tfila Bamberg und Mitglied der Allgemeinen Rabbinerkonferenz (ARK).
inhalt
Der Wochenabschnitt erzählt von einem neuen Pharao, der die Kinder Israels versklavt. Er ordnet an, alle männlichen Erstgeborenen der Hebräer zu töten. Eine Frau aus dem Stamm Levi will ihren Sohn retten und setzt ihn in einem Körbchen auf dem Nil aus. Pharaos Tochter findet das Kind, adoptiert es und gibt ihm den Namen Mosche. Der Junge wächst im Haus des Pharaos auf. Erwachsen geworden, erschlägt Mosche im Eifer einen Ägypter und muss fliehen. Er kommt nach Midjan und heiratet dort die Tochter des Priesters Jitro. Der Ewige spricht zu Mosche aus einem brennenden Dornbusch und beauftragt ihn, zum Pharao zu gehen und die Kinder Israels aus Ägypten hinauszuführen.
2. Buch Mose 1,1 – 6,1