Toldot heißt auf Deutsch »Generationen«. Das Judentum kennt keine »Geschichte«, sondern die Biografien von Menschen, die lebten, liebten und starben. In den Listen im 1. Buch Moses, Kapitel 11, erfahren wir zum Beispiel, wie jemand hieß, wie alt er war, als er Vater wurde, und wie lange er danach noch lebte. Geschichte ist abstrakt, wohingegen Menschenleben aktiv und interessant sind.
Ich bin hier, du bist hier, nicht wegen der »Geschichte«, sondern wegen der Eltern, Großeltern, Urgroßeltern, Ururgroßeltern … – Menschen, die vor langer Zeit die Erde bevölkerten, einander begegneten, sich ineinander verliebten, miteinander schliefen, ihre Kinder möglichst gut erzogen. Und deswegen sind wir jetzt am (vorläufigen) Ende dieser Kette. Es kann sein, sie lebten in anderen Ländern und Kulturen. Vielleicht gehörten sie sogar anderen Religionen an. Sie sprachen Russisch, Hebräisch, Polnisch, Englisch oder was auch immer. Nur, weil sie lebten, leben wir.
Das ist ein wichtiges Prinzip. Die Geschichte, so wie sie normalerweise gelehrt oder geschrieben wird, ist »die Geschichte des Krieges«, »die Geschichte des 19. Jahrhunderts« oder »die Geschichte Berlins«. Aber »die Geschichte der Juden in Europa« – das kennen wir als Juden so nicht. So gehen Akademiker vor, die ihr Geld mit Forschen und Schreiben verdienen.
Oma und Opa Wir hingegen haben Familiengeschichte, Dynastien, Anekdoten. »Warum hat Opa Oma geheiratet? Wo haben sie einander kennengelernt? Welchen Eindruck machte er auf sie und umgekehrt? Warum sind sie damals ausgewandert?« Jedes Kind hat solche Fragen. Glücklich ist, wer eine Familie hat, in der die Geschichten und Anekdoten aufbewahrt und nicht alle Dokumente zerstört wurden oder verloren gegangen sind.
Eine einzige mögliche Ausnahme finden wir vielleicht in der Pessach-Haggada, wo wir anonym von »Unseren Vorvätern« reden. Doch das ist eine Ausnahme, weil wir nur begrenzte Zeit haben, eine lange Geschichte zu erzählen. »Tolda« in der Einzahl existiert nicht – nur als »Toldot« im Plural. Denn eine Generation allein kann es nicht geben. Wir sind immer und alle »Zwischengenerationen«. (Eine Ausnahme wäre ironischerweise das 1. Buch Moses 2,4. Irgendwo muss man beginnen.)
Brücke In der Reihe der Generationen begegnet uns in diesem Wochenabschnitt Jitzchak. Wer ist er? Was wissen wir von ihm? Er ist bekannt als jemand Passives, als Brücke zwischen den anderen Patriarchen Awraham und Jakow. Fast seine ganze Lebensgeschichte findet in dieser Sidra statt. Viel tut er nicht. Konkrete Information gibt es wenig, aber viele Hinweise: Er war ein Mann mit vielen Problemen.
Erstens: Er wurde geboren, als seine Eltern schon recht alt waren, und wuchs als Einzelkind auf (1. Buch Moses 21,2). War seine Mutter Sara glücklich, oder fürchtete sie, die Nachbarn würden sie auslachen wegen dieses späten Kindes?
Zweitens: Sein Halbbruder Ischmael lachte über ihn. Er sollte ihm kein Konkurrent sein! Das machte Sara wütend und brachte sie auf mörderische Gedanken.
Drittens: Als Na’ar, ein nicht mehr ganz so junges Kind, ist er passiv, fragt zwar, aber gibt sich mit einer halben Antwort zufrieden. Er lässt sich beinahe opfern, ohne zu reagieren. Ein Midrasch sagt, er sei zu dieser Zeit schon 32 Jahre alt gewesen.
Dann verschwindet er für eine Weile. Seine trauernde Mutter stirbt kurz danach. Später, in Kapitel 24, muss sein betagter Vater für ihn sorgen, denn Jitzchak ist anscheinend selbst noch immer nicht in der Lage, sich eine Frau auszusuchen. Awraham schickt einen Boten, einen Diener, mit viel Geld, ganz weit weg – wo angeblich keiner je von Jitzchak gehört hat – zu den eigenen Verwandten, die sich vielleicht verpflichtet fühlen oder Verständnis haben und eine geeignete Frau für ihn finden.
Riwka ist angetan und kommt. Aber als sie Jitzchak zum ersten Mal sieht, fällt sie vor Schreck vom Kamel (24,64) und verhüllt sich, nicht nur aus Bescheidenheit, sondern vielleicht auch, weil sie ihn nicht anschauen möchte. Keiner hat ihr erzählt, was sie erwartet. Für Jitzchak ist Riwka nur ein Ersatz für seine Mutter. In 24,67 lesen wir, er habe seine Frau geliebt und sich damit über den Verlust seiner Mutter getröstet.
Eheleben Was für ein Bild hat man von diesem Kerl? Er ist kein Held, kein Händler, kein Reisender, kein Frommer. Ein Muttersöhnchen. Schwach und hilflos.
Und jetzt lesen wir von seinem Eheleben. Es ist nicht glücklich. Er ist schon 40 Jahre alt, als er endlich heiratet. Und es passiert 20 Jahre lang in der Ehe erst einmal nichts. Er betet. Aber um Kinder zu zeugen, muss man mehr tun als beten. Vers 25,21 ist merkwürdig. Wir lesen nicht, dass Jitzchak und Riwka Sex hatten, oder dass er sie »erkannte«, sondern nur, dass Gott »hörte«. Und plötzlich ist die Frau zum ersten und einzigen Mal schwanger. Soll man an etwas Außernatürliches denken?
Egal. Riwka ist endlich schwanger. Sie bekommt sogar Zwillinge mit sehr unterschiedlichen Charakteren. Jitzchak liebt denjenigen, der einfach ist und nicht intellektuell, dafür aber stark und aktiv. Die Mutter hingegen hat lieber jemanden zu Hause, mit dem sie endlich reden kann. Ironischerweise ist Jakow jetzt das Muttersöhnchen.
In Kapitel 26 hat Gott sogar Angst, Jitzchak könne während einer Hungersnot das Land verlassen, und muss dafür sorgen, dass er in Gerar bleibt. In Kapitel 26 ist er endlich erfolgreich. Er wird von Gott gesegnet, hat plötzlich Geld, Vieh, Diener, kann sogar als Diplomat handeln (30-31).
Aber dann wird Jitzchak älter. Er ist fast blind und hat keine Kontrolle über die Söhne. Er lässt sich von seiner Frau betrügen. Die Familie fällt auseinander, es gibt keine Liebe mehr – wenn es überhaupt jemals Liebe gegeben hat. (In 24,67 steht, er habe Riwka als Mutter geliebt. Ob sie ihn liebte, steht nirgends geschrieben.) Jitzchak ist hilflos, als Esaw aus Rache Frauen aus der Umgebung nimmt.
Psychologie Zurück zu der Frage: Was für ein Mann ist Jitzchak? Was sagt die moderne Psychologie und Medizin über einen Menschen, der als Einzelkind bei alten Eltern aufwuchs, von seiner Mutter behütet und vom Vater fast ermordet wurde, der sozial isoliert oder inkompetent und emotional abhängig war, der immer unter einer starken Frau lebte, mit schwierigen Beziehungen zu seinem Vater und den eigenen Söhnen? Ist er vielleicht autistisch? Hat er – die Mutter war schon alt – eine milde Form des Downsyndroms? Ist Riwka deshalb so schockiert und enttäuscht gewesen?
Schon in früheren Midraschim versuchten die Rabbiner zu erklären, wieso Jitzchak nach der Akeda, der Bindung, »beschädigt« war. Ganz gleich, ob das Messer ihn berührt hatte oder nicht, es war ein Trauma. Irgendwie ist er aber schon von Anfang an nicht heil, nicht stark, nicht gesund.
Und so endet die Geschichte von Jitzchak. Er lebt weiterhin zurückgezogen. Die Familiengeschichte konzentriert sich schon auf die nächsten Generationen: Esaw und seine Kinder, Jakow mit seiner Liebe, seinen Frauen, seinen Kindern und Enkelkindern. Jitzchak spielt keine Rolle mehr. Eigentlich wird sein Tod nur in Kapitel 35, 28-29 berichtet. Er hat 180 Jahre erreicht, und beide Zwillingssöhne schaffen es, ihn gemeinsam zu begraben. Riwka wird nicht erwähnt. So ist es manchmal: Die Verwandten sind alt und verschwinden von der Bühne. Und man erinnert sich erst wieder an sie, wenn sie sterben.
Der Autor ist Landesrabbiner von Schleswig-Holstein.
Inhalt
Der Wochenabschnitt Toldot erzählt von der Geburt der Zwillinge Esaw und Jakow. Für ein »rotes Gericht« erkauft Jakow von seinem Bruder das Erstgeburtsrecht. Wegen einer Hungersnot muss Jitzchak das Land verlassen. Er geht zu Awimelech, dem König von Gerar. Dort gibt er seine Frau Riwka als Schwester aus, weil er um sein Leben fürchtet. Als Jitzchak im Sterben liegt, will er Esaw segnen, doch er wird von Riwka und Jakow getäuscht und segnet so Jakow. Der muss danach vor seinem Bruder Esaw flüchten und geht nach Haran.
1. Buch Moses 25,19 – 28,9