Haben Sie schon mal von dem Lied »Despazaltov« gehört? Nein, nicht den Hit »Despacito« des puerto-ricanischen Musikers Luis Fonsi, sondern »Despazaltov« (eine Mischung aus Despacito und Mazal Tov), also die »jüdische Version« von Despacito, des jüdisch-israelischen Musikers Amiran Dvir.
Mit den knapp 7,8 Milliarden Aufrufen auf YouTube, die das Original inzwischen erreicht hat, kann »Despazaltov« zwar nicht mithalten, dennoch gilt es mit 1,2 Millionen Views in der jüdischen Musikindustrie als großer Erfolg. Auch Eliiot Dovrin hat mit »Sasson V’Simcha« eine jüdische Version von »Danza Kuduro« des portugiesischen Sängers und Rappers Lucenzo herausgebracht.
remakes Solche Remakes sind keine Seltenheit. Bei jüdischen Musikern und Produzenten scheint es heutzutage besonders beliebt zu sein, bekannte Hits zu übernehmen, die originalen Lyrics durch einen hebräischen Text zu ersetzen und als jüdische Musik zu vermarkten.
Wenn man die jüdische Musikproduktion unserer Zeit unter die Lupe nimmt, wird man feststellen, dass das »jüdische« Repertoire fast alle Genres von Klassik, Rap, Hip-Hop, Rock, Reggae und Techno enthält und sich oft nur schwer von nichtjüdischer Musik unterscheiden lässt.
Vor nicht allzu langer Zeit jedoch führte jüdische Musik ein eher von der Welt isoliertes Dasein. Außerhalb der jüdischen Gemeinde setzte sie sich hauptsächlich aus Chasanut (Gebetsmelodien), chassidischen Nigunim (Melodien) und Klezmer zusammen.
markenzeichen Letzterer wurde ungefähr im 15. Jahrhundert von aschkenasischen Juden eingeführt. Dabei wird in der Regel mithilfe von Instrumenten wie Klarinette, Akkordeon und Mandoline der Gesang des Chasans nachgeahmt. Somit entsteht eine »krächzende«, fast schon »schluchzende« Melodie, das Markenzeichen des Klezmers.
Das Wort »Klezmer« ist eine Kombination der hebräischen Wörter »Kli« (Gefäß beziehungsweise Instrument) und »Zemer« (Lied), sodass sich Klezmer wörtlich als »Instrument des Liedes« übersetzen lässt. Bis ins 20. Jahrhundert wurde Klezmer inoffiziell als »jiddische Musik« bezeichnet und erst in den 70er-Jahren mit seiner Verbreitung in den USA als Musikstilrichtung anerkannt.
Viele jüdische und später auch nichtjüdische Musiker und Komponisten ließen sich vom Klezmer beeinflussen und inspirieren. Ein Beispiel dafür ist das Klarinetten-Glissando zu Beginn der bekannten Komposition »Rhapsody in Blue« von George Gershwin.
NIGUNIM Dass jüdische Musik wiederum von weltlicher Musik beeinflusst wird, ist an sich keine Neuheit: Chassidische Nigunim verschiedener Dynastien wurden oft von russischen Volksliedern und französischer Marschmusik beeinflusst und sefardische Musik vom abendländischen Maqam (Tonsystem der klassischen vorderasiatischen Musik) inspiriert.
Auch die bekannte Melodie des Chanukkaliedes »Maoz Zur« basiert laut Eduard Birnbaum (1855–1920, Kantor in Königsberg) auf dem deutschen Volkslied »So weiss ich eins, dass mich erfreut, das pluemlein auff preiter heyde« (Altdeutsches Liederbuch, No. 635). Apropos: Dies war die erste Melodie, die Martin Luther für seinen Kirchengesang verwendete.
Dennoch spürt man, dass der modernen jüdischen Musik etwas fehlt und sie nicht mit chassidischen Nigunim verglichen werden kann. Doch worin liegt der Unterschied?
Generell ist Musik eher zu einem Mittel zum Entspannen oder im Gegenteil zum Aufmuntern und Ansporn geworden. Menschen hören Musik auf dem Weg zur Arbeit, beim Joggen oder Studieren, nur noch wenige hören Musik in der Absicht, die Musik selbst zu genießen.
Ich bezweifle sehr, dass »Despasaltov« Mosche am Berg Sinai überliefert wurde.
Doch Musik ist viel mehr als nur eine Quelle des Genusses. Musik ist in der Lage, die Stimmung und sogar den Charakter des Menschen zu beeinflussen. Dies war schon den alten griechischen Philosophen bewusst. So schreibt Plato: »Keine Änderung des Musikstils kann vorgenommen werden, ohne die wichtigsten Konventionen der Gesellschaft zu beeinträchtigen« (Die großen Dialoge). Aristoteles sagte: »Musik hat die Kraft, den Charakter zu bilden« (Politik, S. 1340a).
Auch den jüdischen Weisen war der starke Einfluss von Musik auf den Menschen bewusst. Laut dem Talmud (Chagiga 15b) wurde der große Gelehrte Elischa Ben Avuya zum Ketzer, weil in seinem Haus stets griechische Musik gespielt wurde. Rabbenu BeChaye schreibt in seinem Werk Chovot HaLevavot (Schaar HaPrischut Kap. 5): »Entferne dich von dem, was dich dazu bringen wird, gegen G’tt zu rebellieren und Seine Mizwot aufzugeben – von diesen Liedern und Melodien – die dich beschäftigen und dich davon abbringen, Mizwot und gute Taten zu erfüllen.«
PROPHETIE In der schriftlichen Tora werden Musik und Gesang in verschiedenen Zusammenhängen erwähnt. So sang das jüdische Volk nach der Spaltung des Schilfmeers das Schir HaJam (2. Buch Mose 15,1), der Prophet Elischa nutzte Musik, um Prophetie zu empfangen (2. Buch Könige 3,15), und König Schaul, um sich von Depression zu heilen (1. Buch Schmuel 6,14).
Jedoch schon aus den Hauptaufgaben des Stammes Levi im Tempel, nämlich dem Gesang und dem Musizieren während der verschiedenen Opfergaben, wird deutlich, dass Musik im Judentum eine besondere Rolle spielt.
So schreibt Rabbi Jehuda Halevi im Kusari (2,64): »Die Weisheit der Musik wird im Judentum so geschätzt, dass die erhabene Aufgabe des Musizierens im Heiligtum (dem Tempel) nur den Größten im jüdischen Volk, dem Stamm Levi, zugeteilt wurde und sie außerdem (mit der Ausnahme vom Tora-Studium) keine andere Beschäftigung hatten …« Fast jedes Opfer hatte seine eigene Melodie, sodass es Tausende von verschiedenen Melodien im Tempel gab. Im Laufe des Exils gerieten sie jedoch in Vergessenheit, und es gibt heutzutage nur einige wenige Melodien, über die es heißt, sie stammten aus dem Tempel.
WERTSCHÄTZUNG Auch aus den Schriften der späteren Gelehrten geht hervor, wie sehr Musik im Judentum geschätzt wird. So bringt Rabbi Israel aus Schklov (1770–1839) in der Einleitung zu seinem Werk Pe’at HaSchulchan, was sein großer Lehrer, der Gaon von Wilna, Rabbi Eliyahu Kramer (1720–1797), über Musik sagte. Musik sei eine der Weisheiten, die man benötige, um die Tora vollkommen erfassen zu können, denn ohne Musik ist es nicht möglich, die meisten Geheimnisse der Tora und die Erklärungen zum Sohar, dem Hauptwerk der Kabbala, zu verstehen.
Musik könne Menschen das Leben nehmen, mit ihrer Hilfe könne man sogar Tote wiederbeleben. Viele Melodien oder deren Ursprung wurden Mosche am Berg Sinai zusammen mit der Tora gegeben. Ich bezweifle aber sehr, dass »Despasaltov« und »Sasson V’Simcha« Mosche am Berg Sinai überliefert wurden – ebenso wenig wie auch der Großteil der heutigen jüdischen Musik.
Mit der Kommerzialisierung der Musik und dem Wachstum der jüdischen Musikbranche ist genau das verloren gegangen, was Musik eigentlich ausmachen soll: Leidenschaft und Emotionen. Nur was voller Leidenschaft ist und Gefühle ausdrückt, ist wahre Musik.
Der Autor ist Rabbiner und lebt in Jerusalem.