»Raw Jehuda sagte im Namen Schmuels: ›Bei diesen drei Themen ist es üblich, dass die Toragelehrten von der Wahrheit abweichen: Traktate, Betten und Gastgeber‹« (Bawa Mezia 23b-24a).
Unter welchen Umständen und in welchem Grad man lügen dürfe, war eine bereits in den philosophischen Schulen der Antike viel diskutierte Frage. Wie allen Bereichen der Ethik haben sich die Rabbiner des Talmuds auch diesem Problem gewidmet und es auf verschiedene Weise behandelt. Die konsequenteste, wenn auch vielleicht am wenigsten umsetzbare Sicht hatte die Lehrschule Schammais (um 50 v.d.Z. – 30 n.d.Z.). Sie rückte das biblische Gebot des »Midewar Scheker tirchak« – »von Unwahrem halte dich fern« (2. Buch Mose 23,7) in den Fokus und verbietet daher auch die üblichen Not- oder Gefälligkeitslügen, die man zuweilen ausspricht, um andere nicht zu kränken (Ketubbot 17a).
Dieser strenge Imperativ musste in der Geschichte der Halacha allerdings dem pragmatischeren Ansatz der Schule von Schammais Gegenspieler Hillel weichen, die bei moralischen Dilemmata dieser Art, in denen Wahrheit gegen Frieden steht (vgl. Awot 1,18), dem Frieden den Vorzug gibt (vgl. Ritwa) und davon ausgeht, dass es Lügen gibt, die moralisch vertretbar sind.
Ist es nur erlaubt oder in manchen Fällen sogar geboten, von der Wahrheit abzurücken?
Aus letzterem Traditionsstrang hat sich in den nächsten zwei Jahrhunderten die Folgefrage entwickelt, ob es nur erlaubt sei, um des Friedens willen zu lügen, oder ob es nicht sogar geboten sei, dies zu tun. Rabbi Elasar, der Sohn Rabbi Schimons, vertrat die erste Position, Rabbi Nathan die zweite (Jewamot 65b).
Beiden Tannaiten gelang es, biblische Belege für ihre jeweilige Ansicht zu finden: Rabbi Elasar zitierte die Geschichte von der Lüge der Söhne Jakows nach dem Tod ihres Vaters (1. Buch Mose 50, 16–17) und Rabbi Nathan die Episode, in der der Ewige dem Propheten Schmuel aufträgt zu lügen, um sich vor dem gewalttätigen Jähzorn des Königs Schaul zu schützen (I Schmuel 16,2). Mit diesem Hintergrundwissen wird auch die oben angeführte Gemara-Stelle ein wenig besser verständlich. Doch was hat es mit den dort genannten »Traktaten, Betten und Gastgebern« auf sich?
Manche Frage darf aus Bescheidenheit verneint werden
Wie die klassischen Kommentatoren erklären, meine »Traktat« einen Fall, in dem ein Toragelehrter gefragt werde, ob er einen bestimmten Talmudtraktat bereits gelernt habe. Hier ist es ihm gestattet, diese Frage aus Bescheidenheit zu verneinen, selbst wenn er ihn schon einmal studiert hat.
»Bett« wiederum bezieht sich auf den Fall, in dem ein Toragelehrter auf der Lagerstatt eines anderen geschlafen hat. Darauf angesprochen, dürfe er auch dies abstreiten, um zu verhindern, dass etwaige Beschmutzungen oder Unflätigkeiten, die möglicherweise in diesem Bett aufgefunden werden könnten, mit ihm, und somit mit der Tora und dem Stand der Gelehrten an sich, in Verbindung gebracht werden und die Ehre der Tora in den Augen der Menschen gemindert würde. Dies nämlich käme einem Chilul Haschem, der Entweihung des Gottesnamens, gleich.
Mit »Gastgeber« ist schließlich der Fall gemeint, dass ein Toragelehrter privat und unentgeltlich von einem Mitmenschen beherbergt worden ist. Von Dritten darauf angesprochen, dürfe er lügen und sagen, dass die Beherbergung nicht besonders angenehm gewesen sei.
Dies mag zunächst überraschen. Doch ist dieser kleine Schwindel durchaus im Sinne des Gastgebers. Würde der Toragelehrte nämlich die von ihm erfahrene menschenfreundliche und freigebige Bewirtung der Wahrheit gemäß loben, würde es nicht mehr lange dauern, bis viele Menschen herbeieilten, sich bei dem Gastgeber einnisteten und ihn um seinen ganzen Besitz brächten.
Diese drei Beispiele Schmuels zeigen, dass es auch jenseits von Situationen, die den zwischenmenschlichen und sozialen Frieden tangieren, gute und gerechtfertigte Gründe geben kann, die eigene Aussage anzupassen und zum eigenen Wohle oder dem der Menschen ein wenig von der Wahrheit abzuweichen.